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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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Vor hundert Jahren. Zwei Gedenktage deutscher Geschichte, von Prof. Kutzen-
In zwei Abtheilungen! der Tag von Kollin; der Tag Hom Leuthen. --
Breslau, Hirt.
Die Schlacht bei Leuthen. Eine Jubclschrist von Dr. Adolph Müller. --
Berlin, Fr. Schulze. --

Wenn die Reaction fortwährend darüber 'klagt, daß sich der Liberalismus
die deutsche Entwickelung ganz nach dem Maßstab englischer und französischer
Verfassungsformen vorstellt und die Abweichung der deutschen Zustände
außer Acht läßt, so ist dieser Vorwurf nicht un gegründet, aber die Schuld
trifft hauptsächlich die deutschen Regierungen von 1815--48. Blättert man
z, B. in der preußischen Staatszeitung bis 1847, so erstaunt man über das
Geschick, mit welchem die parlamentarischen Verhandlungen von London und
Paris, in zweiter Linie auch die von Madrid, Brüssel u. s. w. behandelt
sind, während sich über Deutschland, einzelne dürftige Hofnotizen, Todesfälle
u. f. w. abgerechnet, kein Wort darin vorfindet. Jene Debatten waren nicht
in dem Sinn einer bestimmten Partei, etwa im Sinn des preußischen Absolu¬
tismus redigirt, sondern ganz objectiv; man konnte sich aus ihnen viel voll¬
ständiger über die Ansichten und Grundsätze der leitenden Persönlichkeiten in
jenen Ländern unterrichten, als aus irgend einer französischen Zeitung. Die
natürliche Folge war. daß sich das gesammte Publicum im hohen Grade
für Guizot, Thiers, Odilon Barrot, für Peel. Russel, Palmerston
interessirte, während es von den Staatsmännern, auf welche bei Preu¬
ßens Zukunft zu rechnen war, nicht einmal die Namen wußte. Zwar
brachten die liberalen Blätter Süddeutschlands einige Notizen von den
Kammerverhandlungen der kleinen deutschen Staaten, aber diese beschränkten
sich entweder auf Localsragen, für die man anderwärts kein Verständniß er¬
warten durfte, oder sie waren nur ein schwacher Abklatsch von dem großen
Schauspiel, welches in London und Paris ausgeführt wurde. Die politische
Beschäftigung muß entweder von einem bestimmten realen Interesse ausgehn,
oder sie muß die Phantasie anregen, und sür das Letztere sorgten die
Leiter in England und Frankreich und ihre Verb/endete, die preußische Staats¬
zeitung, in hinreichendem Maß. Als nun bei dem Antritt des jetzt regieren¬
den Königs der Presse eine freiere Bewegung verstattet wurde, als die alt¬
ehrwürdigen Institute Berlins die Budcnfragc an der Schloßfreiheit und
Probleme von ähnlicher Tragweite behandelten, ließen sich die Provinzial-
blätter, welche nun die Führung der Opposition übernahmen, die Lehren der
Staatszeitung wohl gesagt sein: sie behandelten die deutschen Zustände nach
den Gesichtspunkten der französischen Parlamentsredner. Es machte zuweilen
einen ganz wunderlichen Eindruck, wenn Stichwörter, die für Deutschland gar
keinen Sinn hatten, und abstracte Bezeichnungen, denen die entsprechenden


Vor hundert Jahren. Zwei Gedenktage deutscher Geschichte, von Prof. Kutzen-
In zwei Abtheilungen! der Tag von Kollin; der Tag Hom Leuthen. —
Breslau, Hirt.
Die Schlacht bei Leuthen. Eine Jubclschrist von Dr. Adolph Müller. —
Berlin, Fr. Schulze. —

Wenn die Reaction fortwährend darüber 'klagt, daß sich der Liberalismus
die deutsche Entwickelung ganz nach dem Maßstab englischer und französischer
Verfassungsformen vorstellt und die Abweichung der deutschen Zustände
außer Acht läßt, so ist dieser Vorwurf nicht un gegründet, aber die Schuld
trifft hauptsächlich die deutschen Regierungen von 1815—48. Blättert man
z, B. in der preußischen Staatszeitung bis 1847, so erstaunt man über das
Geschick, mit welchem die parlamentarischen Verhandlungen von London und
Paris, in zweiter Linie auch die von Madrid, Brüssel u. s. w. behandelt
sind, während sich über Deutschland, einzelne dürftige Hofnotizen, Todesfälle
u. f. w. abgerechnet, kein Wort darin vorfindet. Jene Debatten waren nicht
in dem Sinn einer bestimmten Partei, etwa im Sinn des preußischen Absolu¬
tismus redigirt, sondern ganz objectiv; man konnte sich aus ihnen viel voll¬
ständiger über die Ansichten und Grundsätze der leitenden Persönlichkeiten in
jenen Ländern unterrichten, als aus irgend einer französischen Zeitung. Die
natürliche Folge war. daß sich das gesammte Publicum im hohen Grade
für Guizot, Thiers, Odilon Barrot, für Peel. Russel, Palmerston
interessirte, während es von den Staatsmännern, auf welche bei Preu¬
ßens Zukunft zu rechnen war, nicht einmal die Namen wußte. Zwar
brachten die liberalen Blätter Süddeutschlands einige Notizen von den
Kammerverhandlungen der kleinen deutschen Staaten, aber diese beschränkten
sich entweder auf Localsragen, für die man anderwärts kein Verständniß er¬
warten durfte, oder sie waren nur ein schwacher Abklatsch von dem großen
Schauspiel, welches in London und Paris ausgeführt wurde. Die politische
Beschäftigung muß entweder von einem bestimmten realen Interesse ausgehn,
oder sie muß die Phantasie anregen, und sür das Letztere sorgten die
Leiter in England und Frankreich und ihre Verb/endete, die preußische Staats¬
zeitung, in hinreichendem Maß. Als nun bei dem Antritt des jetzt regieren¬
den Königs der Presse eine freiere Bewegung verstattet wurde, als die alt¬
ehrwürdigen Institute Berlins die Budcnfragc an der Schloßfreiheit und
Probleme von ähnlicher Tragweite behandelten, ließen sich die Provinzial-
blätter, welche nun die Führung der Opposition übernahmen, die Lehren der
Staatszeitung wohl gesagt sein: sie behandelten die deutschen Zustände nach
den Gesichtspunkten der französischen Parlamentsredner. Es machte zuweilen
einen ganz wunderlichen Eindruck, wenn Stichwörter, die für Deutschland gar
keinen Sinn hatten, und abstracte Bezeichnungen, denen die entsprechenden


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[0074] Vor hundert Jahren. Zwei Gedenktage deutscher Geschichte, von Prof. Kutzen- In zwei Abtheilungen! der Tag von Kollin; der Tag Hom Leuthen. — Breslau, Hirt. Die Schlacht bei Leuthen. Eine Jubclschrist von Dr. Adolph Müller. — Berlin, Fr. Schulze. — Wenn die Reaction fortwährend darüber 'klagt, daß sich der Liberalismus die deutsche Entwickelung ganz nach dem Maßstab englischer und französischer Verfassungsformen vorstellt und die Abweichung der deutschen Zustände außer Acht läßt, so ist dieser Vorwurf nicht un gegründet, aber die Schuld trifft hauptsächlich die deutschen Regierungen von 1815—48. Blättert man z, B. in der preußischen Staatszeitung bis 1847, so erstaunt man über das Geschick, mit welchem die parlamentarischen Verhandlungen von London und Paris, in zweiter Linie auch die von Madrid, Brüssel u. s. w. behandelt sind, während sich über Deutschland, einzelne dürftige Hofnotizen, Todesfälle u. f. w. abgerechnet, kein Wort darin vorfindet. Jene Debatten waren nicht in dem Sinn einer bestimmten Partei, etwa im Sinn des preußischen Absolu¬ tismus redigirt, sondern ganz objectiv; man konnte sich aus ihnen viel voll¬ ständiger über die Ansichten und Grundsätze der leitenden Persönlichkeiten in jenen Ländern unterrichten, als aus irgend einer französischen Zeitung. Die natürliche Folge war. daß sich das gesammte Publicum im hohen Grade für Guizot, Thiers, Odilon Barrot, für Peel. Russel, Palmerston interessirte, während es von den Staatsmännern, auf welche bei Preu¬ ßens Zukunft zu rechnen war, nicht einmal die Namen wußte. Zwar brachten die liberalen Blätter Süddeutschlands einige Notizen von den Kammerverhandlungen der kleinen deutschen Staaten, aber diese beschränkten sich entweder auf Localsragen, für die man anderwärts kein Verständniß er¬ warten durfte, oder sie waren nur ein schwacher Abklatsch von dem großen Schauspiel, welches in London und Paris ausgeführt wurde. Die politische Beschäftigung muß entweder von einem bestimmten realen Interesse ausgehn, oder sie muß die Phantasie anregen, und sür das Letztere sorgten die Leiter in England und Frankreich und ihre Verb/endete, die preußische Staats¬ zeitung, in hinreichendem Maß. Als nun bei dem Antritt des jetzt regieren¬ den Königs der Presse eine freiere Bewegung verstattet wurde, als die alt¬ ehrwürdigen Institute Berlins die Budcnfragc an der Schloßfreiheit und Probleme von ähnlicher Tragweite behandelten, ließen sich die Provinzial- blätter, welche nun die Führung der Opposition übernahmen, die Lehren der Staatszeitung wohl gesagt sein: sie behandelten die deutschen Zustände nach den Gesichtspunkten der französischen Parlamentsredner. Es machte zuweilen einen ganz wunderlichen Eindruck, wenn Stichwörter, die für Deutschland gar keinen Sinn hatten, und abstracte Bezeichnungen, denen die entsprechenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/74>, abgerufen am 29.04.2024.