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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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Thatsachen fehlten, ohne Weiteres der neuen Politik zu Grunde gelegt
wurden. Als man in Berlin einen Localverein zur Hebung der nothleiden¬
den Classen gründete, schien das Exercitium in den parlamentarischen Formen
der Hauptzweck zu sein- auch hier hatte man eine äußerste Rechte und äußerste
Linke, ein rechtes und linkes Centrum und einen Tiers-Parti; es regnete von
Amendements. Interpellationen, Präsidentenwahlen u. d.- g.. und man konnte
schon damals wahrnehmen, daß es uns erforderlichen Falls an "ehrenwerthen"
Rednern nicht fehlen würde. Nun kam die große Ueberraschung des vereinigten
Landtags, dessen Verhandlungen die Staatszeitung neben den englischen und
französischen ausführlich mittheilte. Es hätte sich daraus eine sehr gedeihliche
Entwicklung der politischen Gewohnheiten herleiten lassen, wenn nicht die
Regierung geflissentlich das Ansehn dieser höchst loyalen Versammlung, die
sie doch selber ins Leben gerufen, untergraben hätte. Wenn man auch rechts
und links an die fleißige Lectüre der preußischen Staatszeitung d. h. der
französischen Redensarten erinnert wurde, so waren die Mitglieder dieser Ver¬
sammlung doch durchweg Männer, die innerhalb des Staats ein bestimmtes
Interesse zu vertreten hatten, und jeder in seinem Kreise vollständig wußten,
um was es sich handelte. Richtete das Publicum zunächst, wie es sich von
selbst versteht, seine Aufmerksamkeit auf die sogenannten allgemeinen Fragen,
so Hütte es sich mit der Zeit daran gewöhnt, auch die Wichtigkeit der Spe¬
cialitäten zu begreifen, der landwirthschaftlichen, gewerblichen Verhältnisse u. s. w.
Die Unruhen von 1848 leiteten die öffentliche Meinung wieder in die ent¬
gegengesetzte Richtung, und die abstracte Politik, das einseitige Parteiinteresse
dominirte für mehre Jahre die öffentlichen Verhandlungen. Wenn sich jetzt in
dieser Beziehung eine gründliche Reaction wahrnehmbar macht, so verdankt man
das zum Theil dem so viel geschmähten Materialismus. Die Noth hat die Men-
schendcchin gebracht, sich um den concreten Inhaltder Zuständezu kümmern, und ohne
deshalb die Formfragen bei Seite zu setzen, die Politik wieder auf ihre
eigentliche Basis zu beziehen, auf die Volkswirthschaft, das Recht u. s. w.
Wenn daher die Kammerverhandlungen und die Zeitungen gegenwärtig einen
viel weniger brillanten Eindruck machen als 1848, ja als 1842 und 184".
so ist das nur ein scheinbarer Rückschritt. Denn früher handelte es sich nur
um allgemeine Wünsche, und die Parteien schienen sich einander zuzurufen:
fürchte dich, damit ich mich nicht fürchte! jetzt dagegen kämpft Einsicht gegen
Einsicht, und die Bureaukratie, die früher den Liberalismus als eine jugend¬
liche Schwärmerei bemitleidete, hat jetzt alle Kräfte aufzubieten, um in den
materiellen Fragen den vollwichtigen Gründen der Presse und der parlamen¬
tarischen Opposition zu begegnen. Durch diese gründlichere Einsicht in die hei¬
mischen-Zustände lernt man auch das Ausland richtiger würdigen, und während
früher die Leser der Staatszeitung nur die Außenseite des Parlamentarismus


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Thatsachen fehlten, ohne Weiteres der neuen Politik zu Grunde gelegt
wurden. Als man in Berlin einen Localverein zur Hebung der nothleiden¬
den Classen gründete, schien das Exercitium in den parlamentarischen Formen
der Hauptzweck zu sein- auch hier hatte man eine äußerste Rechte und äußerste
Linke, ein rechtes und linkes Centrum und einen Tiers-Parti; es regnete von
Amendements. Interpellationen, Präsidentenwahlen u. d.- g.. und man konnte
schon damals wahrnehmen, daß es uns erforderlichen Falls an „ehrenwerthen"
Rednern nicht fehlen würde. Nun kam die große Ueberraschung des vereinigten
Landtags, dessen Verhandlungen die Staatszeitung neben den englischen und
französischen ausführlich mittheilte. Es hätte sich daraus eine sehr gedeihliche
Entwicklung der politischen Gewohnheiten herleiten lassen, wenn nicht die
Regierung geflissentlich das Ansehn dieser höchst loyalen Versammlung, die
sie doch selber ins Leben gerufen, untergraben hätte. Wenn man auch rechts
und links an die fleißige Lectüre der preußischen Staatszeitung d. h. der
französischen Redensarten erinnert wurde, so waren die Mitglieder dieser Ver¬
sammlung doch durchweg Männer, die innerhalb des Staats ein bestimmtes
Interesse zu vertreten hatten, und jeder in seinem Kreise vollständig wußten,
um was es sich handelte. Richtete das Publicum zunächst, wie es sich von
selbst versteht, seine Aufmerksamkeit auf die sogenannten allgemeinen Fragen,
so Hütte es sich mit der Zeit daran gewöhnt, auch die Wichtigkeit der Spe¬
cialitäten zu begreifen, der landwirthschaftlichen, gewerblichen Verhältnisse u. s. w.
Die Unruhen von 1848 leiteten die öffentliche Meinung wieder in die ent¬
gegengesetzte Richtung, und die abstracte Politik, das einseitige Parteiinteresse
dominirte für mehre Jahre die öffentlichen Verhandlungen. Wenn sich jetzt in
dieser Beziehung eine gründliche Reaction wahrnehmbar macht, so verdankt man
das zum Theil dem so viel geschmähten Materialismus. Die Noth hat die Men-
schendcchin gebracht, sich um den concreten Inhaltder Zuständezu kümmern, und ohne
deshalb die Formfragen bei Seite zu setzen, die Politik wieder auf ihre
eigentliche Basis zu beziehen, auf die Volkswirthschaft, das Recht u. s. w.
Wenn daher die Kammerverhandlungen und die Zeitungen gegenwärtig einen
viel weniger brillanten Eindruck machen als 1848, ja als 1842 und 184».
so ist das nur ein scheinbarer Rückschritt. Denn früher handelte es sich nur
um allgemeine Wünsche, und die Parteien schienen sich einander zuzurufen:
fürchte dich, damit ich mich nicht fürchte! jetzt dagegen kämpft Einsicht gegen
Einsicht, und die Bureaukratie, die früher den Liberalismus als eine jugend¬
liche Schwärmerei bemitleidete, hat jetzt alle Kräfte aufzubieten, um in den
materiellen Fragen den vollwichtigen Gründen der Presse und der parlamen¬
tarischen Opposition zu begegnen. Durch diese gründlichere Einsicht in die hei¬
mischen-Zustände lernt man auch das Ausland richtiger würdigen, und während
früher die Leser der Staatszeitung nur die Außenseite des Parlamentarismus


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[0075] Thatsachen fehlten, ohne Weiteres der neuen Politik zu Grunde gelegt wurden. Als man in Berlin einen Localverein zur Hebung der nothleiden¬ den Classen gründete, schien das Exercitium in den parlamentarischen Formen der Hauptzweck zu sein- auch hier hatte man eine äußerste Rechte und äußerste Linke, ein rechtes und linkes Centrum und einen Tiers-Parti; es regnete von Amendements. Interpellationen, Präsidentenwahlen u. d.- g.. und man konnte schon damals wahrnehmen, daß es uns erforderlichen Falls an „ehrenwerthen" Rednern nicht fehlen würde. Nun kam die große Ueberraschung des vereinigten Landtags, dessen Verhandlungen die Staatszeitung neben den englischen und französischen ausführlich mittheilte. Es hätte sich daraus eine sehr gedeihliche Entwicklung der politischen Gewohnheiten herleiten lassen, wenn nicht die Regierung geflissentlich das Ansehn dieser höchst loyalen Versammlung, die sie doch selber ins Leben gerufen, untergraben hätte. Wenn man auch rechts und links an die fleißige Lectüre der preußischen Staatszeitung d. h. der französischen Redensarten erinnert wurde, so waren die Mitglieder dieser Ver¬ sammlung doch durchweg Männer, die innerhalb des Staats ein bestimmtes Interesse zu vertreten hatten, und jeder in seinem Kreise vollständig wußten, um was es sich handelte. Richtete das Publicum zunächst, wie es sich von selbst versteht, seine Aufmerksamkeit auf die sogenannten allgemeinen Fragen, so Hütte es sich mit der Zeit daran gewöhnt, auch die Wichtigkeit der Spe¬ cialitäten zu begreifen, der landwirthschaftlichen, gewerblichen Verhältnisse u. s. w. Die Unruhen von 1848 leiteten die öffentliche Meinung wieder in die ent¬ gegengesetzte Richtung, und die abstracte Politik, das einseitige Parteiinteresse dominirte für mehre Jahre die öffentlichen Verhandlungen. Wenn sich jetzt in dieser Beziehung eine gründliche Reaction wahrnehmbar macht, so verdankt man das zum Theil dem so viel geschmähten Materialismus. Die Noth hat die Men- schendcchin gebracht, sich um den concreten Inhaltder Zuständezu kümmern, und ohne deshalb die Formfragen bei Seite zu setzen, die Politik wieder auf ihre eigentliche Basis zu beziehen, auf die Volkswirthschaft, das Recht u. s. w. Wenn daher die Kammerverhandlungen und die Zeitungen gegenwärtig einen viel weniger brillanten Eindruck machen als 1848, ja als 1842 und 184». so ist das nur ein scheinbarer Rückschritt. Denn früher handelte es sich nur um allgemeine Wünsche, und die Parteien schienen sich einander zuzurufen: fürchte dich, damit ich mich nicht fürchte! jetzt dagegen kämpft Einsicht gegen Einsicht, und die Bureaukratie, die früher den Liberalismus als eine jugend¬ liche Schwärmerei bemitleidete, hat jetzt alle Kräfte aufzubieten, um in den materiellen Fragen den vollwichtigen Gründen der Presse und der parlamen¬ tarischen Opposition zu begegnen. Durch diese gründlichere Einsicht in die hei¬ mischen-Zustände lernt man auch das Ausland richtiger würdigen, und während früher die Leser der Staatszeitung nur die Außenseite des Parlamentarismus ö*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/75>, abgerufen am 15.05.2024.