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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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Die Leibeigenschaft in Rußland.
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Seit dem November vorigen Jahres ist die Emancipation der bäuerlichen
Bevölkerung in Nußland aus dem Stadium schüchterner Versuche oder vereinzelter
Nothbehelfe in die Epoche eines energischen Gesammtnngriffs übergegangen.
Nicht mit der Omnipotenz von Ukasen, wie man sie unter Nikolaus 1. gewohnt
war. ist Kaiser Alezander 2. vorgegangen, sondern er überließ dem Grund¬
adel die Initiative zur Anbahnung des ungeheuern Werkes, dessen organische
Principien blos in allgemeinen Umrissen bezeichnet wurden. Bis jetzt haben
sich aus 23 Gouvernements der 45 des europäischen Rußland die Adelschaften
zur Bildung von Berathungscomit6s für die Emancipationsfrage bereit erklärt.
Weiter als bis zu diesem Schritte ist jedoch noch keines auch dieser Gouverne¬
ments gediehen, welche sämmtlich der westlichen Peripherie des Reiches an¬
gehören. Bei etwa in von diesen 2" handelt es sich auch gar nicht um Auf¬
hebung der Leibeigenschaft. Denn das eigentliche Königreich Polen hat
die wirkliche Leibeigenschaft niemals gekannt, in Finnland hat niemals selbst
ein nur ähnliches Verhältniß eristirt, in den drei baltischen Gouvernements ist
bereits 1833 der letzte Leibeigne persönlich frei geworden, in Kleinrußland beschränkt
sich das Leibeigenschaftsverhältniß auf bestimmte Kreise. So schrumpft also
die Zahl derjenigen Gouvernements sehr zusammen, deren Adel seine Bereit¬
willigkeit zur Anbahnung der Bauernemancipation wirklich aus dem Verhältniß
der Leibherrschaft über Eigenhörige heraus kundgegeben hat. Der Kernsitz
der Leibeigenschaft, das fruchtrciche Großrußland, verharrt sogar in seiner
Gesammtheit den kaiserlichen Anregungen und ministeriellen Anmahnungen
gegenüber noch in abweisendem Schweigen. Bei der Mehrzahl derjenigen
Gouvernements, deren Adel Verhandlungen über d,e Frage der Emancipation
vornehmen will, gilt es dagegen blos, eine wirkliche Feststellung der gegen¬
seitigen Rechte und Pflichten zwischen Grundherrn und Bauern oder Gemein¬
den herbeizuführen. Daß aber da, wo die Leibeigenschaft besteht, das letzte
Ziel der jetzt begonnenen Reform eine wirkliche persönliche Freiheit des
Bauern sein soll, ist in keinem der vielen Regierungserlasse seit dem Novem¬
ber v. Is. mit klaren und dürren Worten ausgesprochen. Allerdings kann
nach menschlichem Ermessen der Erfolg jener Reformen in seiner Totalität kein


Grenzbote" III. 1858. I
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Die Leibeigenschaft in Rußland.
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Seit dem November vorigen Jahres ist die Emancipation der bäuerlichen
Bevölkerung in Nußland aus dem Stadium schüchterner Versuche oder vereinzelter
Nothbehelfe in die Epoche eines energischen Gesammtnngriffs übergegangen.
Nicht mit der Omnipotenz von Ukasen, wie man sie unter Nikolaus 1. gewohnt
war. ist Kaiser Alezander 2. vorgegangen, sondern er überließ dem Grund¬
adel die Initiative zur Anbahnung des ungeheuern Werkes, dessen organische
Principien blos in allgemeinen Umrissen bezeichnet wurden. Bis jetzt haben
sich aus 23 Gouvernements der 45 des europäischen Rußland die Adelschaften
zur Bildung von Berathungscomit6s für die Emancipationsfrage bereit erklärt.
Weiter als bis zu diesem Schritte ist jedoch noch keines auch dieser Gouverne¬
ments gediehen, welche sämmtlich der westlichen Peripherie des Reiches an¬
gehören. Bei etwa in von diesen 2» handelt es sich auch gar nicht um Auf¬
hebung der Leibeigenschaft. Denn das eigentliche Königreich Polen hat
die wirkliche Leibeigenschaft niemals gekannt, in Finnland hat niemals selbst
ein nur ähnliches Verhältniß eristirt, in den drei baltischen Gouvernements ist
bereits 1833 der letzte Leibeigne persönlich frei geworden, in Kleinrußland beschränkt
sich das Leibeigenschaftsverhältniß auf bestimmte Kreise. So schrumpft also
die Zahl derjenigen Gouvernements sehr zusammen, deren Adel seine Bereit¬
willigkeit zur Anbahnung der Bauernemancipation wirklich aus dem Verhältniß
der Leibherrschaft über Eigenhörige heraus kundgegeben hat. Der Kernsitz
der Leibeigenschaft, das fruchtrciche Großrußland, verharrt sogar in seiner
Gesammtheit den kaiserlichen Anregungen und ministeriellen Anmahnungen
gegenüber noch in abweisendem Schweigen. Bei der Mehrzahl derjenigen
Gouvernements, deren Adel Verhandlungen über d,e Frage der Emancipation
vornehmen will, gilt es dagegen blos, eine wirkliche Feststellung der gegen¬
seitigen Rechte und Pflichten zwischen Grundherrn und Bauern oder Gemein¬
den herbeizuführen. Daß aber da, wo die Leibeigenschaft besteht, das letzte
Ziel der jetzt begonnenen Reform eine wirkliche persönliche Freiheit des
Bauern sein soll, ist in keinem der vielen Regierungserlasse seit dem Novem¬
ber v. Is. mit klaren und dürren Worten ausgesprochen. Allerdings kann
nach menschlichem Ermessen der Erfolg jener Reformen in seiner Totalität kein


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[0009] Die Leibeigenschaft in Rußland. . t::' '/ Seit dem November vorigen Jahres ist die Emancipation der bäuerlichen Bevölkerung in Nußland aus dem Stadium schüchterner Versuche oder vereinzelter Nothbehelfe in die Epoche eines energischen Gesammtnngriffs übergegangen. Nicht mit der Omnipotenz von Ukasen, wie man sie unter Nikolaus 1. gewohnt war. ist Kaiser Alezander 2. vorgegangen, sondern er überließ dem Grund¬ adel die Initiative zur Anbahnung des ungeheuern Werkes, dessen organische Principien blos in allgemeinen Umrissen bezeichnet wurden. Bis jetzt haben sich aus 23 Gouvernements der 45 des europäischen Rußland die Adelschaften zur Bildung von Berathungscomit6s für die Emancipationsfrage bereit erklärt. Weiter als bis zu diesem Schritte ist jedoch noch keines auch dieser Gouverne¬ ments gediehen, welche sämmtlich der westlichen Peripherie des Reiches an¬ gehören. Bei etwa in von diesen 2» handelt es sich auch gar nicht um Auf¬ hebung der Leibeigenschaft. Denn das eigentliche Königreich Polen hat die wirkliche Leibeigenschaft niemals gekannt, in Finnland hat niemals selbst ein nur ähnliches Verhältniß eristirt, in den drei baltischen Gouvernements ist bereits 1833 der letzte Leibeigne persönlich frei geworden, in Kleinrußland beschränkt sich das Leibeigenschaftsverhältniß auf bestimmte Kreise. So schrumpft also die Zahl derjenigen Gouvernements sehr zusammen, deren Adel seine Bereit¬ willigkeit zur Anbahnung der Bauernemancipation wirklich aus dem Verhältniß der Leibherrschaft über Eigenhörige heraus kundgegeben hat. Der Kernsitz der Leibeigenschaft, das fruchtrciche Großrußland, verharrt sogar in seiner Gesammtheit den kaiserlichen Anregungen und ministeriellen Anmahnungen gegenüber noch in abweisendem Schweigen. Bei der Mehrzahl derjenigen Gouvernements, deren Adel Verhandlungen über d,e Frage der Emancipation vornehmen will, gilt es dagegen blos, eine wirkliche Feststellung der gegen¬ seitigen Rechte und Pflichten zwischen Grundherrn und Bauern oder Gemein¬ den herbeizuführen. Daß aber da, wo die Leibeigenschaft besteht, das letzte Ziel der jetzt begonnenen Reform eine wirkliche persönliche Freiheit des Bauern sein soll, ist in keinem der vielen Regierungserlasse seit dem Novem¬ ber v. Is. mit klaren und dürren Worten ausgesprochen. Allerdings kann nach menschlichem Ermessen der Erfolg jener Reformen in seiner Totalität kein Grenzbote» III. 1858. I ,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/9>, abgerufen am 06.05.2024.