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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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Die Einheit Deutschlands.

Die deutsche Nationaleinheit in ihrer volkswirthschaftlichen. geistigen und politischen
Entwicklung an der Hand der Geschichte von Max Wirth. -- Frankfurt
a. M., Sauerländer. --

Der Verfasser hat sich durch seine Geschichte der Handelskrisen und durch
seine Nationalökonomie in Deutschland einen guten Namen gemacht; sowol
das Feld, auf dem sich diese Arbeiten bewegen, als auch der Titel des neuen
Werks ließen vermuthen, daß in demselben hauptsächlich der volkswirthschaft-
liche Gesichtspunkt zur Geltung kommen würde. Diese Vermuthung wird in¬
dessen nicht erfüllt: abgesehn von einigen einleitenden Digressionen über die
Wichtigkeit des volkswirthschaftlichen Standpunkts wird derselbe nicht mehr in An¬
wendung gebracht als in irgend einer andern politischen Geschichte Deutschlands.
Eine Culturgeschichte Deutschlands ungefähr in der Art. wie sie Guizot und
Thierry für einige Perioden der französischen Geschichte wirklich geschrieben
haben, steht noch zu erwarten.

Betrachten wir nun das Werk als eine politische Geschichte, so wurden
wir vor allen Dingen, da es sich nicht um eine epische Darstellung handelt.
Klarheit. Prägnanz und Nichtigkeit der leitenden Gesichtspunkte verlangen.
In dieser Beziehung bleibt aber sehr viel zu wünschen übrig. Der Verfasser
sucht die Gründe zu entwickeln, warum Deutschland trotz seiner großen Anlage
in der politischen Entwicklung hinter den Franzosen und Engländern zurück¬
geblieben ist; er geht aber in dieser Untersuchung sehr weit zurück und rst in
seinen Angaben höchst ungenau.

Sein Hauptgrund ist nämlich die Theilung Deutschlands in vier Stämme,
die Franken. Sachsen. Baiern und Schwaben. Diese Stammeintheilung fin¬
det er sowol sprachlich als politisch noch in den Zeiten der Reformation ver¬
treten, obgleich er selbst erzählen muß. daß nach dem Fall Heinrich des Löwen
die alten Stammherzogthümer völlig zertrümmert wurden, und daß bei dem
neuen Territorialstaat von einer Rücksicht auf die Volksstämme nicht mehr tue
Rede ist. Wo er übrigens in der Literatur des fünfzehnten Jahrhunderts die
vier Dialekte finden will, verstehn wir nicht; es ist jedoch für die wesent¬
liche Tendenz des Werks auch gleichgültig. Was aber das eigentliche Mtttel-
alter betrifft, so ist der Gegensatz zwischen der proper?ausehen und der nord-
französtschen Sprache doch wol ein größerer als der zwischen hochdeutsch und
niederdeutsch.

Seite 10 sagt er wörtlich: ..Nicht weil Ludwig der Elfte ein energischer,
herrschsüchtiger und rücksichtsloser Monarch war. wurde Frankreich unter seiner
Herrschaft zum Einheitsstaat, sondern weil Gallien von den Römern schon


Die Einheit Deutschlands.

Die deutsche Nationaleinheit in ihrer volkswirthschaftlichen. geistigen und politischen
Entwicklung an der Hand der Geschichte von Max Wirth. — Frankfurt
a. M., Sauerländer. —

Der Verfasser hat sich durch seine Geschichte der Handelskrisen und durch
seine Nationalökonomie in Deutschland einen guten Namen gemacht; sowol
das Feld, auf dem sich diese Arbeiten bewegen, als auch der Titel des neuen
Werks ließen vermuthen, daß in demselben hauptsächlich der volkswirthschaft-
liche Gesichtspunkt zur Geltung kommen würde. Diese Vermuthung wird in¬
dessen nicht erfüllt: abgesehn von einigen einleitenden Digressionen über die
Wichtigkeit des volkswirthschaftlichen Standpunkts wird derselbe nicht mehr in An¬
wendung gebracht als in irgend einer andern politischen Geschichte Deutschlands.
Eine Culturgeschichte Deutschlands ungefähr in der Art. wie sie Guizot und
Thierry für einige Perioden der französischen Geschichte wirklich geschrieben
haben, steht noch zu erwarten.

Betrachten wir nun das Werk als eine politische Geschichte, so wurden
wir vor allen Dingen, da es sich nicht um eine epische Darstellung handelt.
Klarheit. Prägnanz und Nichtigkeit der leitenden Gesichtspunkte verlangen.
In dieser Beziehung bleibt aber sehr viel zu wünschen übrig. Der Verfasser
sucht die Gründe zu entwickeln, warum Deutschland trotz seiner großen Anlage
in der politischen Entwicklung hinter den Franzosen und Engländern zurück¬
geblieben ist; er geht aber in dieser Untersuchung sehr weit zurück und rst in
seinen Angaben höchst ungenau.

Sein Hauptgrund ist nämlich die Theilung Deutschlands in vier Stämme,
die Franken. Sachsen. Baiern und Schwaben. Diese Stammeintheilung fin¬
det er sowol sprachlich als politisch noch in den Zeiten der Reformation ver¬
treten, obgleich er selbst erzählen muß. daß nach dem Fall Heinrich des Löwen
die alten Stammherzogthümer völlig zertrümmert wurden, und daß bei dem
neuen Territorialstaat von einer Rücksicht auf die Volksstämme nicht mehr tue
Rede ist. Wo er übrigens in der Literatur des fünfzehnten Jahrhunderts die
vier Dialekte finden will, verstehn wir nicht; es ist jedoch für die wesent¬
liche Tendenz des Werks auch gleichgültig. Was aber das eigentliche Mtttel-
alter betrifft, so ist der Gegensatz zwischen der proper?ausehen und der nord-
französtschen Sprache doch wol ein größerer als der zwischen hochdeutsch und
niederdeutsch.

Seite 10 sagt er wörtlich: ..Nicht weil Ludwig der Elfte ein energischer,
herrschsüchtiger und rücksichtsloser Monarch war. wurde Frankreich unter seiner
Herrschaft zum Einheitsstaat, sondern weil Gallien von den Römern schon


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[0041] Die Einheit Deutschlands. Die deutsche Nationaleinheit in ihrer volkswirthschaftlichen. geistigen und politischen Entwicklung an der Hand der Geschichte von Max Wirth. — Frankfurt a. M., Sauerländer. — Der Verfasser hat sich durch seine Geschichte der Handelskrisen und durch seine Nationalökonomie in Deutschland einen guten Namen gemacht; sowol das Feld, auf dem sich diese Arbeiten bewegen, als auch der Titel des neuen Werks ließen vermuthen, daß in demselben hauptsächlich der volkswirthschaft- liche Gesichtspunkt zur Geltung kommen würde. Diese Vermuthung wird in¬ dessen nicht erfüllt: abgesehn von einigen einleitenden Digressionen über die Wichtigkeit des volkswirthschaftlichen Standpunkts wird derselbe nicht mehr in An¬ wendung gebracht als in irgend einer andern politischen Geschichte Deutschlands. Eine Culturgeschichte Deutschlands ungefähr in der Art. wie sie Guizot und Thierry für einige Perioden der französischen Geschichte wirklich geschrieben haben, steht noch zu erwarten. Betrachten wir nun das Werk als eine politische Geschichte, so wurden wir vor allen Dingen, da es sich nicht um eine epische Darstellung handelt. Klarheit. Prägnanz und Nichtigkeit der leitenden Gesichtspunkte verlangen. In dieser Beziehung bleibt aber sehr viel zu wünschen übrig. Der Verfasser sucht die Gründe zu entwickeln, warum Deutschland trotz seiner großen Anlage in der politischen Entwicklung hinter den Franzosen und Engländern zurück¬ geblieben ist; er geht aber in dieser Untersuchung sehr weit zurück und rst in seinen Angaben höchst ungenau. Sein Hauptgrund ist nämlich die Theilung Deutschlands in vier Stämme, die Franken. Sachsen. Baiern und Schwaben. Diese Stammeintheilung fin¬ det er sowol sprachlich als politisch noch in den Zeiten der Reformation ver¬ treten, obgleich er selbst erzählen muß. daß nach dem Fall Heinrich des Löwen die alten Stammherzogthümer völlig zertrümmert wurden, und daß bei dem neuen Territorialstaat von einer Rücksicht auf die Volksstämme nicht mehr tue Rede ist. Wo er übrigens in der Literatur des fünfzehnten Jahrhunderts die vier Dialekte finden will, verstehn wir nicht; es ist jedoch für die wesent¬ liche Tendenz des Werks auch gleichgültig. Was aber das eigentliche Mtttel- alter betrifft, so ist der Gegensatz zwischen der proper?ausehen und der nord- französtschen Sprache doch wol ein größerer als der zwischen hochdeutsch und niederdeutsch. Seite 10 sagt er wörtlich: ..Nicht weil Ludwig der Elfte ein energischer, herrschsüchtiger und rücksichtsloser Monarch war. wurde Frankreich unter seiner Herrschaft zum Einheitsstaat, sondern weil Gallien von den Römern schon

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/41>, abgerufen am 27.04.2024.