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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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vollständig unterjocht, civilisirt und durch römische Gesetzgebung und Verwal¬
tung politisch und volkswirthschaftlich centralisirt, von den Franken aber, wenn
auch erobert, doch in seiner wirthschaftlichen Verfassung gelassen war; weniger
weil Deutschland schwache Kaiser und viele mächtige Fürsten hatte, konnte
es bis jetzt nicht zum Einheitsstaat gelangen, als weil die Römer über den
größern Theil seiner Stände niemals Herr geworden waren, weit keiner der
vier Hauptstämme die Oberhand über die andern gewann. Aus diesen Grün¬
den drängt sich uns der Schluß aus, daß dem Abschluß der deutschen Nqtional-
einheit kein wesentliches Hinderniß mehr im Wege steht, sobald es gelungen
ist. jene Hauptursache der Zersplitterung, den Particularismus der vier Haupt¬
stämme zu entfernen.

Es ist nicht zu viel gesagt, wenn wir behaupten, daß an dieser Deduction
und allem, was damit zusammenhängt, kein wahres Wort ist. Was die Gegen¬
wart betrifft, so scheint es doch schon schwer genug, das Königreich Preußen,
das Königreich Hannover, das Königreich Sachsen und einige Dutzend Staaten,
die ihnen benachbart sind, unter einen Hut zu bringen, obgleich doch schwerlich
die Stammesverschiedenheit daran Schuld ist. Denn da von diesen Staaten keiner
weder dem baierschen, noch dem schwäbischen, noch dem fränkischen Stamm an¬
gehört, so wird sie der Verfasser doch wol alle zu dem sächsischen rechnen.
Das ist zwar nickt ganz richtig, aber was an der Einheit dieser Staaten fehlt,
hat seinen Grund nicht in den Stammverschiedenheiten, sondern in den Höfen
und in der sich ihnen anschließenden Bureaukratie.

Der Verfasser vergißt außerdem ganz, daß im Mttelalter unter den Otto-
nen und Saliern die Gründung eines deutschen Einheitsstaats viel näher lag.
als die eines französischen, und daß sie nur durch die unglückselige Neigung
dieser Fürsten hintertrieben wurde, lieber römische Kaiser als deutsche Könige
zu sein.

Selbst im fünfzehnten Jahrhundert stand die Sache für Deutschland noch
nicht so schlecht; zwar hatte das System der TerritoriMaat.en sehr bedenklich
um sich gegriffen, aber unter Karl dem Siebenten in Frankreich, unter Richard
dem Dritten in England sah es auch mit der Staatseinheit kläglich genug aus.

Die entscheidende Periode für Deutschland war die von 1517--1648.
Besaß ein Kaiser die Entschlossenheit wie Heinrich der Achte von England,
die Bewegung der Reformation zu seinen Zwecken auszubeuten, ode.r gelang es
den Kaisern wie Richelieu, den protestantischen Bund niederzuschlagen und
diesen Sieg zur Vernichtung des Territorialsürstenthums zu be.nuHen, so konnte
noch im siebzehnten Jahrhundert die Reichseinheit hergestellt werden; wenig¬
stens hätten die vier Stämme sie nicht gehindert.

Nach dem westfälischen Frieden war das nicht mehr möglich. Die ein¬
zige reale Macht in Deutschland war fortan das LandesfürstentIum. .Pie


vollständig unterjocht, civilisirt und durch römische Gesetzgebung und Verwal¬
tung politisch und volkswirthschaftlich centralisirt, von den Franken aber, wenn
auch erobert, doch in seiner wirthschaftlichen Verfassung gelassen war; weniger
weil Deutschland schwache Kaiser und viele mächtige Fürsten hatte, konnte
es bis jetzt nicht zum Einheitsstaat gelangen, als weil die Römer über den
größern Theil seiner Stände niemals Herr geworden waren, weit keiner der
vier Hauptstämme die Oberhand über die andern gewann. Aus diesen Grün¬
den drängt sich uns der Schluß aus, daß dem Abschluß der deutschen Nqtional-
einheit kein wesentliches Hinderniß mehr im Wege steht, sobald es gelungen
ist. jene Hauptursache der Zersplitterung, den Particularismus der vier Haupt¬
stämme zu entfernen.

Es ist nicht zu viel gesagt, wenn wir behaupten, daß an dieser Deduction
und allem, was damit zusammenhängt, kein wahres Wort ist. Was die Gegen¬
wart betrifft, so scheint es doch schon schwer genug, das Königreich Preußen,
das Königreich Hannover, das Königreich Sachsen und einige Dutzend Staaten,
die ihnen benachbart sind, unter einen Hut zu bringen, obgleich doch schwerlich
die Stammesverschiedenheit daran Schuld ist. Denn da von diesen Staaten keiner
weder dem baierschen, noch dem schwäbischen, noch dem fränkischen Stamm an¬
gehört, so wird sie der Verfasser doch wol alle zu dem sächsischen rechnen.
Das ist zwar nickt ganz richtig, aber was an der Einheit dieser Staaten fehlt,
hat seinen Grund nicht in den Stammverschiedenheiten, sondern in den Höfen
und in der sich ihnen anschließenden Bureaukratie.

Der Verfasser vergißt außerdem ganz, daß im Mttelalter unter den Otto-
nen und Saliern die Gründung eines deutschen Einheitsstaats viel näher lag.
als die eines französischen, und daß sie nur durch die unglückselige Neigung
dieser Fürsten hintertrieben wurde, lieber römische Kaiser als deutsche Könige
zu sein.

Selbst im fünfzehnten Jahrhundert stand die Sache für Deutschland noch
nicht so schlecht; zwar hatte das System der TerritoriMaat.en sehr bedenklich
um sich gegriffen, aber unter Karl dem Siebenten in Frankreich, unter Richard
dem Dritten in England sah es auch mit der Staatseinheit kläglich genug aus.

Die entscheidende Periode für Deutschland war die von 1517—1648.
Besaß ein Kaiser die Entschlossenheit wie Heinrich der Achte von England,
die Bewegung der Reformation zu seinen Zwecken auszubeuten, ode.r gelang es
den Kaisern wie Richelieu, den protestantischen Bund niederzuschlagen und
diesen Sieg zur Vernichtung des Territorialsürstenthums zu be.nuHen, so konnte
noch im siebzehnten Jahrhundert die Reichseinheit hergestellt werden; wenig¬
stens hätten die vier Stämme sie nicht gehindert.

Nach dem westfälischen Frieden war das nicht mehr möglich. Die ein¬
zige reale Macht in Deutschland war fortan das LandesfürstentIum. .Pie


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[0042] vollständig unterjocht, civilisirt und durch römische Gesetzgebung und Verwal¬ tung politisch und volkswirthschaftlich centralisirt, von den Franken aber, wenn auch erobert, doch in seiner wirthschaftlichen Verfassung gelassen war; weniger weil Deutschland schwache Kaiser und viele mächtige Fürsten hatte, konnte es bis jetzt nicht zum Einheitsstaat gelangen, als weil die Römer über den größern Theil seiner Stände niemals Herr geworden waren, weit keiner der vier Hauptstämme die Oberhand über die andern gewann. Aus diesen Grün¬ den drängt sich uns der Schluß aus, daß dem Abschluß der deutschen Nqtional- einheit kein wesentliches Hinderniß mehr im Wege steht, sobald es gelungen ist. jene Hauptursache der Zersplitterung, den Particularismus der vier Haupt¬ stämme zu entfernen. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn wir behaupten, daß an dieser Deduction und allem, was damit zusammenhängt, kein wahres Wort ist. Was die Gegen¬ wart betrifft, so scheint es doch schon schwer genug, das Königreich Preußen, das Königreich Hannover, das Königreich Sachsen und einige Dutzend Staaten, die ihnen benachbart sind, unter einen Hut zu bringen, obgleich doch schwerlich die Stammesverschiedenheit daran Schuld ist. Denn da von diesen Staaten keiner weder dem baierschen, noch dem schwäbischen, noch dem fränkischen Stamm an¬ gehört, so wird sie der Verfasser doch wol alle zu dem sächsischen rechnen. Das ist zwar nickt ganz richtig, aber was an der Einheit dieser Staaten fehlt, hat seinen Grund nicht in den Stammverschiedenheiten, sondern in den Höfen und in der sich ihnen anschließenden Bureaukratie. Der Verfasser vergißt außerdem ganz, daß im Mttelalter unter den Otto- nen und Saliern die Gründung eines deutschen Einheitsstaats viel näher lag. als die eines französischen, und daß sie nur durch die unglückselige Neigung dieser Fürsten hintertrieben wurde, lieber römische Kaiser als deutsche Könige zu sein. Selbst im fünfzehnten Jahrhundert stand die Sache für Deutschland noch nicht so schlecht; zwar hatte das System der TerritoriMaat.en sehr bedenklich um sich gegriffen, aber unter Karl dem Siebenten in Frankreich, unter Richard dem Dritten in England sah es auch mit der Staatseinheit kläglich genug aus. Die entscheidende Periode für Deutschland war die von 1517—1648. Besaß ein Kaiser die Entschlossenheit wie Heinrich der Achte von England, die Bewegung der Reformation zu seinen Zwecken auszubeuten, ode.r gelang es den Kaisern wie Richelieu, den protestantischen Bund niederzuschlagen und diesen Sieg zur Vernichtung des Territorialsürstenthums zu be.nuHen, so konnte noch im siebzehnten Jahrhundert die Reichseinheit hergestellt werden; wenig¬ stens hätten die vier Stämme sie nicht gehindert. Nach dem westfälischen Frieden war das nicht mehr möglich. Die ein¬ zige reale Macht in Deutschland war fortan das LandesfürstentIum. .Pie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/42>, abgerufen am 14.05.2024.