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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Die Hoffähigkeit.

Wie der Einzelne beim Beginn des neuen Jahres die Fortschritte seines
innern Lebens mustert und den Vorsatz faßt, Mängel seiner Bildung und
Sittlichkeit zu bessern, so werden auch die Millionen Menschen, welche zu¬
sammen das deutsche Volk bilden, Ursache haben, jetzt beim Aufgehen einer
neuen Entwickelungsperiode ein Urtheil über den politischen Standpunkt zu
gewinnen, den sie in der Gegenwart einnehmen.

Wenn hier zu solcher Selbsterkenntniß ein kleiner Beitrag gegeben wird,
so erhebt der Verfasser nicht den Anspruch, Unbekanntes zu berichten. Im
Gegentheil ist er sicher, daß die besten des deutschen Adels die hier aus-
gesprochne Ueberzeugung ebenso theilen, wie das gesammte Bürgerthum
Deutschlands.

Wer über die deutsche Hoffähigkeit und ihren Einfluß auf Souveräne
und Adel spricht, von dem wird vor Allem Unbefangenheit und außerdem
einige Rücksicht zarter Natur gefordert werden. Denn was im alten Her¬
kommen von Uebel sein sollte, ist nicht durch menschliches Verschulden in
unser Leben getragen. Es ist allerdings Ueberrest abgelebter Bildung, Ueber¬
lieferung aus einer oft herben und wilden Vergangenheit. Aber innig ist
der alte Brauch mit den gemüthlichen Neigungen der deutschen Souveräne
verbunden, er gilt Tausenden einflußreicher Staatsangehörigen für einen werth¬
vollen Besitz, auf dem ein großer Theil ihrer Selbstachtung beruht. Und doch
setzt die Tradition der Höfe die höchsten Repräsentanten deutschen Lebens in
Gefahr, auf ihrer Höhe zu vereinsamen und in unlösbare Conflicte zu kom¬
men mit der höchsten Bildung ihrer Zeit. Dieselbe Tradition vermehrt auch
dem deutschen Adel die Gefahr, in den Sonderinteressen einer privilegirten
Kaste zu verkümmern. Aus diesem Grunde muß gerade der loyalste Staats¬
bürger am lebhaftesten eine Besserung des Unzuträglichen wünschen.
! Ueberall, wo sich die Würde einer hohen Ehrenstellung äußerlich offen¬
bart, regelt auch Ceremonien und eigenthümlicher gesellschaftlicher Brauch die
Beziehungen der Menschen, welche dem Vertreter irdischer Hoheit zu persön¬
lichem Verkehr nahen. Unter allen Verhältnissen hat sich das eingeführt, nicht


Grenzboten I. 1860, 1
Die Hoffähigkeit.

Wie der Einzelne beim Beginn des neuen Jahres die Fortschritte seines
innern Lebens mustert und den Vorsatz faßt, Mängel seiner Bildung und
Sittlichkeit zu bessern, so werden auch die Millionen Menschen, welche zu¬
sammen das deutsche Volk bilden, Ursache haben, jetzt beim Aufgehen einer
neuen Entwickelungsperiode ein Urtheil über den politischen Standpunkt zu
gewinnen, den sie in der Gegenwart einnehmen.

Wenn hier zu solcher Selbsterkenntniß ein kleiner Beitrag gegeben wird,
so erhebt der Verfasser nicht den Anspruch, Unbekanntes zu berichten. Im
Gegentheil ist er sicher, daß die besten des deutschen Adels die hier aus-
gesprochne Ueberzeugung ebenso theilen, wie das gesammte Bürgerthum
Deutschlands.

Wer über die deutsche Hoffähigkeit und ihren Einfluß auf Souveräne
und Adel spricht, von dem wird vor Allem Unbefangenheit und außerdem
einige Rücksicht zarter Natur gefordert werden. Denn was im alten Her¬
kommen von Uebel sein sollte, ist nicht durch menschliches Verschulden in
unser Leben getragen. Es ist allerdings Ueberrest abgelebter Bildung, Ueber¬
lieferung aus einer oft herben und wilden Vergangenheit. Aber innig ist
der alte Brauch mit den gemüthlichen Neigungen der deutschen Souveräne
verbunden, er gilt Tausenden einflußreicher Staatsangehörigen für einen werth¬
vollen Besitz, auf dem ein großer Theil ihrer Selbstachtung beruht. Und doch
setzt die Tradition der Höfe die höchsten Repräsentanten deutschen Lebens in
Gefahr, auf ihrer Höhe zu vereinsamen und in unlösbare Conflicte zu kom¬
men mit der höchsten Bildung ihrer Zeit. Dieselbe Tradition vermehrt auch
dem deutschen Adel die Gefahr, in den Sonderinteressen einer privilegirten
Kaste zu verkümmern. Aus diesem Grunde muß gerade der loyalste Staats¬
bürger am lebhaftesten eine Besserung des Unzuträglichen wünschen.
! Ueberall, wo sich die Würde einer hohen Ehrenstellung äußerlich offen¬
bart, regelt auch Ceremonien und eigenthümlicher gesellschaftlicher Brauch die
Beziehungen der Menschen, welche dem Vertreter irdischer Hoheit zu persön¬
lichem Verkehr nahen. Unter allen Verhältnissen hat sich das eingeführt, nicht


Grenzboten I. 1860, 1
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[0013] Die Hoffähigkeit. Wie der Einzelne beim Beginn des neuen Jahres die Fortschritte seines innern Lebens mustert und den Vorsatz faßt, Mängel seiner Bildung und Sittlichkeit zu bessern, so werden auch die Millionen Menschen, welche zu¬ sammen das deutsche Volk bilden, Ursache haben, jetzt beim Aufgehen einer neuen Entwickelungsperiode ein Urtheil über den politischen Standpunkt zu gewinnen, den sie in der Gegenwart einnehmen. Wenn hier zu solcher Selbsterkenntniß ein kleiner Beitrag gegeben wird, so erhebt der Verfasser nicht den Anspruch, Unbekanntes zu berichten. Im Gegentheil ist er sicher, daß die besten des deutschen Adels die hier aus- gesprochne Ueberzeugung ebenso theilen, wie das gesammte Bürgerthum Deutschlands. Wer über die deutsche Hoffähigkeit und ihren Einfluß auf Souveräne und Adel spricht, von dem wird vor Allem Unbefangenheit und außerdem einige Rücksicht zarter Natur gefordert werden. Denn was im alten Her¬ kommen von Uebel sein sollte, ist nicht durch menschliches Verschulden in unser Leben getragen. Es ist allerdings Ueberrest abgelebter Bildung, Ueber¬ lieferung aus einer oft herben und wilden Vergangenheit. Aber innig ist der alte Brauch mit den gemüthlichen Neigungen der deutschen Souveräne verbunden, er gilt Tausenden einflußreicher Staatsangehörigen für einen werth¬ vollen Besitz, auf dem ein großer Theil ihrer Selbstachtung beruht. Und doch setzt die Tradition der Höfe die höchsten Repräsentanten deutschen Lebens in Gefahr, auf ihrer Höhe zu vereinsamen und in unlösbare Conflicte zu kom¬ men mit der höchsten Bildung ihrer Zeit. Dieselbe Tradition vermehrt auch dem deutschen Adel die Gefahr, in den Sonderinteressen einer privilegirten Kaste zu verkümmern. Aus diesem Grunde muß gerade der loyalste Staats¬ bürger am lebhaftesten eine Besserung des Unzuträglichen wünschen. ! Ueberall, wo sich die Würde einer hohen Ehrenstellung äußerlich offen¬ bart, regelt auch Ceremonien und eigenthümlicher gesellschaftlicher Brauch die Beziehungen der Menschen, welche dem Vertreter irdischer Hoheit zu persön¬ lichem Verkehr nahen. Unter allen Verhältnissen hat sich das eingeführt, nicht Grenzboten I. 1860, 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/13>, abgerufen am 28.04.2024.