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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Der Streit um dus DiWeittlM.

Die Grenzverhältnifsc, welche durch die Bertvage von 1815 zwischen der
Schweiz, Frankreich und Piemont festgestellt wurden, haben gerade jetzt eine
besondere Wichtigkeit erhalten. Wenn in Ur. I d. Bl. die ungewöhnliche
Stipulcition zwischen der Schweiz und Sardinien dargestellt wurde, welche der
Schweiz das militärische Besatznngörccht über die Hülste des Herzogthums
Savoyen, das höchste Gebirgsland Europas, einräumte, so sei hier eine Grenz-
ftage der Schweiz gegen Frankreich erörtert, welche, wie unbedeutend das frag¬
liche Territortium an sich ist, für uns kaum weniger wichtig werden kann.

Der Staatsbäu und das Territorium der Schweiz sind in diesem Augen¬
blick zu betrachten als ein Vorwerk des östlichen Europas an den Quellen des
Rheins, wie es Belgien und die Niederlande an den Mündungen desselben Stro¬
mes sind, souveräne Festungen, durch welche das vieltheiligc Deutschland gegen
den starken Expansivdrang des concentrirten Frankreich gedeckt wird. Jede
Schmälerung der Rechte und des Territoriums sowol der Schweiz als Belgiens
und der Niederlande bedroht auch Deutschland.

Napoleon der Dritte hat nach längerem Schwanken sich entschlossen; er hat
eine Politik gewählt, welcher auch seine Gegner, zu denen wir nur soweit ge¬
hören, als wir müssen, das Prädicat der Größe nicht versagen werden. Er
hat Oestreich aufgegeben, er hat mit dem Papst gebrochen. Die Vereinigung
der italienischen Staaten unter einer nationalen Regierung hängt jetzt vorzugs¬
weise von dem italienischen Volke selbst ab. Der große Grundsatz von Frei-
heit der Nationalitäten, welcher bis dahin nur vorsichtig und energielos von
der whigistischen Politik Englands geltend gemacht wurde, er wird jetzt durch
die größte Macht des europäischen Festlandes wie etwas Selbstverständliches
proclamirt.

Er hat noch mehr gewagt. Seine Opposition gegen das weltliche Mi߬
regiment des Papstes ist zu gleicher Zeit ein Kampf gegen das beschränkte
aristokratische System der römischen Hierarchie, weiche in den letzten Jahrzehnten
mit bleierner Schwere auf den katholischen Völkern Europas lastete und die
geistige und materielle Entwicklung der Volkskraft zurückhielt.


Grenzten I. 1LL0. 21
Der Streit um dus DiWeittlM.

Die Grenzverhältnifsc, welche durch die Bertvage von 1815 zwischen der
Schweiz, Frankreich und Piemont festgestellt wurden, haben gerade jetzt eine
besondere Wichtigkeit erhalten. Wenn in Ur. I d. Bl. die ungewöhnliche
Stipulcition zwischen der Schweiz und Sardinien dargestellt wurde, welche der
Schweiz das militärische Besatznngörccht über die Hülste des Herzogthums
Savoyen, das höchste Gebirgsland Europas, einräumte, so sei hier eine Grenz-
ftage der Schweiz gegen Frankreich erörtert, welche, wie unbedeutend das frag¬
liche Territortium an sich ist, für uns kaum weniger wichtig werden kann.

Der Staatsbäu und das Territorium der Schweiz sind in diesem Augen¬
blick zu betrachten als ein Vorwerk des östlichen Europas an den Quellen des
Rheins, wie es Belgien und die Niederlande an den Mündungen desselben Stro¬
mes sind, souveräne Festungen, durch welche das vieltheiligc Deutschland gegen
den starken Expansivdrang des concentrirten Frankreich gedeckt wird. Jede
Schmälerung der Rechte und des Territoriums sowol der Schweiz als Belgiens
und der Niederlande bedroht auch Deutschland.

Napoleon der Dritte hat nach längerem Schwanken sich entschlossen; er hat
eine Politik gewählt, welcher auch seine Gegner, zu denen wir nur soweit ge¬
hören, als wir müssen, das Prädicat der Größe nicht versagen werden. Er
hat Oestreich aufgegeben, er hat mit dem Papst gebrochen. Die Vereinigung
der italienischen Staaten unter einer nationalen Regierung hängt jetzt vorzugs¬
weise von dem italienischen Volke selbst ab. Der große Grundsatz von Frei-
heit der Nationalitäten, welcher bis dahin nur vorsichtig und energielos von
der whigistischen Politik Englands geltend gemacht wurde, er wird jetzt durch
die größte Macht des europäischen Festlandes wie etwas Selbstverständliches
proclamirt.

Er hat noch mehr gewagt. Seine Opposition gegen das weltliche Mi߬
regiment des Papstes ist zu gleicher Zeit ein Kampf gegen das beschränkte
aristokratische System der römischen Hierarchie, weiche in den letzten Jahrzehnten
mit bleierner Schwere auf den katholischen Völkern Europas lastete und die
geistige und materielle Entwicklung der Volkskraft zurückhielt.


Grenzten I. 1LL0. 21
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[0173] Der Streit um dus DiWeittlM. Die Grenzverhältnifsc, welche durch die Bertvage von 1815 zwischen der Schweiz, Frankreich und Piemont festgestellt wurden, haben gerade jetzt eine besondere Wichtigkeit erhalten. Wenn in Ur. I d. Bl. die ungewöhnliche Stipulcition zwischen der Schweiz und Sardinien dargestellt wurde, welche der Schweiz das militärische Besatznngörccht über die Hülste des Herzogthums Savoyen, das höchste Gebirgsland Europas, einräumte, so sei hier eine Grenz- ftage der Schweiz gegen Frankreich erörtert, welche, wie unbedeutend das frag¬ liche Territortium an sich ist, für uns kaum weniger wichtig werden kann. Der Staatsbäu und das Territorium der Schweiz sind in diesem Augen¬ blick zu betrachten als ein Vorwerk des östlichen Europas an den Quellen des Rheins, wie es Belgien und die Niederlande an den Mündungen desselben Stro¬ mes sind, souveräne Festungen, durch welche das vieltheiligc Deutschland gegen den starken Expansivdrang des concentrirten Frankreich gedeckt wird. Jede Schmälerung der Rechte und des Territoriums sowol der Schweiz als Belgiens und der Niederlande bedroht auch Deutschland. Napoleon der Dritte hat nach längerem Schwanken sich entschlossen; er hat eine Politik gewählt, welcher auch seine Gegner, zu denen wir nur soweit ge¬ hören, als wir müssen, das Prädicat der Größe nicht versagen werden. Er hat Oestreich aufgegeben, er hat mit dem Papst gebrochen. Die Vereinigung der italienischen Staaten unter einer nationalen Regierung hängt jetzt vorzugs¬ weise von dem italienischen Volke selbst ab. Der große Grundsatz von Frei- heit der Nationalitäten, welcher bis dahin nur vorsichtig und energielos von der whigistischen Politik Englands geltend gemacht wurde, er wird jetzt durch die größte Macht des europäischen Festlandes wie etwas Selbstverständliches proclamirt. Er hat noch mehr gewagt. Seine Opposition gegen das weltliche Mi߬ regiment des Papstes ist zu gleicher Zeit ein Kampf gegen das beschränkte aristokratische System der römischen Hierarchie, weiche in den letzten Jahrzehnten mit bleierner Schwere auf den katholischen Völkern Europas lastete und die geistige und materielle Entwicklung der Volkskraft zurückhielt. Grenzten I. 1LL0. 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/173>, abgerufen am 29.04.2024.