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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Wilhelmine Schröder-Dcvnent.

Es ist nicht leicht, bis ins Einzelne den Zusammenhang zwischen dem
dramatischen Schaffen und der dramatischen Darstellung festzustellen, obgleich
kein Zweifel darüber obwalten kann, daß ein solcher Zusammenhang wirklich
stattfindet. Denn wo der Schauspielkunst große und zugleich mögliche Auf¬
gaben geboten werden, wird sich mit dem Interesse des.Publikums an den
neuen Schöpfungen auch ein entsprechender Eifer von Seiten des Schauspie¬
lers einstellen, der im Schaffen mit dem Dichter gewissermaßen wetteifert.
Wo der Schauspieler dagegen genöthigt ist. sich hauptsächlich auf die Repro¬
duktion der Rollen zu beschränken, die schon früher von namhaften Künstlern
geschaffen und ihm fertig überliefert sind, wird er entweder in geistlose Nach¬
ahmung, oder, um seine Vorgänger zu überbieten, in manierirte Uebertreibung
verfallen. Diese Wechselwirkung ist so augenscheinlich, daß man zuweilen den
traurigen Verfall der heutigen Bühne ausschließlich aus dem Umstand herleitet,
daß dem stehenden classischen Repertoire kein neues die Wage hält.

Daß aber dies Motiv nicht das ausschließliche ist, beweist der Vergleich
der heutigen Bühne mit der des vorigen Menschenalters. Was das dichte¬
rische Schaffen betrifft, so kann man sich für das Theater kaum eine kläglichere
Periode vorstellen, als die vom Tode Schillers bis zum Ende der dreißiger
Jahre. Denn von dem einzigen Dichter, der eine Ausnahme macht, von
Heinrich von Kleist wurden damals die Stücke selten oder gar nicht aufgeführt.
In dieser Beziehung ist es jetzt viel besser geworden: es haben sich nicht blos
viel größere Talente der dramatischen Dichtkunst zugewandt, sondern es fin¬
det auch ein ernsthaftes Nachdenken über die Gesetze der Kunst statt, und man
bemüht sich vielmehr als in jener Periode, zur Naturwahrheit zurückzukehren,
wodurch, wie man annehmen sollte, der Aufgabe der Schauspieler sehr vor¬
gearbeitet wird. Trotzdem hat ein entsprechender Aufschwung der Schauspiel¬
kunst nicht stattgefunden. Im Gegentheil datirt der Verfall der Bühne erst
von jener Zeit, und wenn ältere Schauspieler voll Einsicht über die goldene
Zeit des Theaters sprechen, so meinen sie damit die Periode bis zu Anfang
der dreißiger Jahre.

Wilhelmine S ehrst er-Devrient,

deren Tod wir heute betrauern,
steht auf der Scheidegrenze dieser beiden Perioden. Seit zehn Jahren dem
Theater fern, hat sie vorher, da sie sehr jung begann, nahe an dreißig Jahre
die Zierde desselben gebildet. In dem Andenken der Schauspieler, die in dieser
Beziehung stets das richtigste Urtheil haben, hat sie den Ruf der ersten dra-


Wilhelmine Schröder-Dcvnent.

Es ist nicht leicht, bis ins Einzelne den Zusammenhang zwischen dem
dramatischen Schaffen und der dramatischen Darstellung festzustellen, obgleich
kein Zweifel darüber obwalten kann, daß ein solcher Zusammenhang wirklich
stattfindet. Denn wo der Schauspielkunst große und zugleich mögliche Auf¬
gaben geboten werden, wird sich mit dem Interesse des.Publikums an den
neuen Schöpfungen auch ein entsprechender Eifer von Seiten des Schauspie¬
lers einstellen, der im Schaffen mit dem Dichter gewissermaßen wetteifert.
Wo der Schauspieler dagegen genöthigt ist. sich hauptsächlich auf die Repro¬
duktion der Rollen zu beschränken, die schon früher von namhaften Künstlern
geschaffen und ihm fertig überliefert sind, wird er entweder in geistlose Nach¬
ahmung, oder, um seine Vorgänger zu überbieten, in manierirte Uebertreibung
verfallen. Diese Wechselwirkung ist so augenscheinlich, daß man zuweilen den
traurigen Verfall der heutigen Bühne ausschließlich aus dem Umstand herleitet,
daß dem stehenden classischen Repertoire kein neues die Wage hält.

Daß aber dies Motiv nicht das ausschließliche ist, beweist der Vergleich
der heutigen Bühne mit der des vorigen Menschenalters. Was das dichte¬
rische Schaffen betrifft, so kann man sich für das Theater kaum eine kläglichere
Periode vorstellen, als die vom Tode Schillers bis zum Ende der dreißiger
Jahre. Denn von dem einzigen Dichter, der eine Ausnahme macht, von
Heinrich von Kleist wurden damals die Stücke selten oder gar nicht aufgeführt.
In dieser Beziehung ist es jetzt viel besser geworden: es haben sich nicht blos
viel größere Talente der dramatischen Dichtkunst zugewandt, sondern es fin¬
det auch ein ernsthaftes Nachdenken über die Gesetze der Kunst statt, und man
bemüht sich vielmehr als in jener Periode, zur Naturwahrheit zurückzukehren,
wodurch, wie man annehmen sollte, der Aufgabe der Schauspieler sehr vor¬
gearbeitet wird. Trotzdem hat ein entsprechender Aufschwung der Schauspiel¬
kunst nicht stattgefunden. Im Gegentheil datirt der Verfall der Bühne erst
von jener Zeit, und wenn ältere Schauspieler voll Einsicht über die goldene
Zeit des Theaters sprechen, so meinen sie damit die Periode bis zu Anfang
der dreißiger Jahre.

Wilhelmine S ehrst er-Devrient,

deren Tod wir heute betrauern,
steht auf der Scheidegrenze dieser beiden Perioden. Seit zehn Jahren dem
Theater fern, hat sie vorher, da sie sehr jung begann, nahe an dreißig Jahre
die Zierde desselben gebildet. In dem Andenken der Schauspieler, die in dieser
Beziehung stets das richtigste Urtheil haben, hat sie den Ruf der ersten dra-


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[0250] Wilhelmine Schröder-Dcvnent. Es ist nicht leicht, bis ins Einzelne den Zusammenhang zwischen dem dramatischen Schaffen und der dramatischen Darstellung festzustellen, obgleich kein Zweifel darüber obwalten kann, daß ein solcher Zusammenhang wirklich stattfindet. Denn wo der Schauspielkunst große und zugleich mögliche Auf¬ gaben geboten werden, wird sich mit dem Interesse des.Publikums an den neuen Schöpfungen auch ein entsprechender Eifer von Seiten des Schauspie¬ lers einstellen, der im Schaffen mit dem Dichter gewissermaßen wetteifert. Wo der Schauspieler dagegen genöthigt ist. sich hauptsächlich auf die Repro¬ duktion der Rollen zu beschränken, die schon früher von namhaften Künstlern geschaffen und ihm fertig überliefert sind, wird er entweder in geistlose Nach¬ ahmung, oder, um seine Vorgänger zu überbieten, in manierirte Uebertreibung verfallen. Diese Wechselwirkung ist so augenscheinlich, daß man zuweilen den traurigen Verfall der heutigen Bühne ausschließlich aus dem Umstand herleitet, daß dem stehenden classischen Repertoire kein neues die Wage hält. Daß aber dies Motiv nicht das ausschließliche ist, beweist der Vergleich der heutigen Bühne mit der des vorigen Menschenalters. Was das dichte¬ rische Schaffen betrifft, so kann man sich für das Theater kaum eine kläglichere Periode vorstellen, als die vom Tode Schillers bis zum Ende der dreißiger Jahre. Denn von dem einzigen Dichter, der eine Ausnahme macht, von Heinrich von Kleist wurden damals die Stücke selten oder gar nicht aufgeführt. In dieser Beziehung ist es jetzt viel besser geworden: es haben sich nicht blos viel größere Talente der dramatischen Dichtkunst zugewandt, sondern es fin¬ det auch ein ernsthaftes Nachdenken über die Gesetze der Kunst statt, und man bemüht sich vielmehr als in jener Periode, zur Naturwahrheit zurückzukehren, wodurch, wie man annehmen sollte, der Aufgabe der Schauspieler sehr vor¬ gearbeitet wird. Trotzdem hat ein entsprechender Aufschwung der Schauspiel¬ kunst nicht stattgefunden. Im Gegentheil datirt der Verfall der Bühne erst von jener Zeit, und wenn ältere Schauspieler voll Einsicht über die goldene Zeit des Theaters sprechen, so meinen sie damit die Periode bis zu Anfang der dreißiger Jahre. Wilhelmine S ehrst er-Devrient, deren Tod wir heute betrauern, steht auf der Scheidegrenze dieser beiden Perioden. Seit zehn Jahren dem Theater fern, hat sie vorher, da sie sehr jung begann, nahe an dreißig Jahre die Zierde desselben gebildet. In dem Andenken der Schauspieler, die in dieser Beziehung stets das richtigste Urtheil haben, hat sie den Ruf der ersten dra-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/250>, abgerufen am 29.04.2024.