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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Zwei Unter.

In früheren Zeiten, wenn die politische Situation Europas unklar war
und man keine Ahnung davon hatte, waS der folgende Tag bringen werde,
harrte man ungeduldig auf die Eröffnung der parlamentarischen Versammlun¬
gen, überzeugt, daß dann die Minister genöthigt sein würden, den Landes-
vertrctern Rede zu stehen. Ohne diese äußere Nöthigung war es nicht Sitte,
daß Staatsmänner und Diplomaten das Publikum in ihr Vertrauen zöge".
Die Geschäfte wurden so zurecht gelegt, daß sobald die Königin von England
ihr Parlament eröffnete, wenigstens der Schein eines Abschlusses vorhanden
war, und es wurde alsdann dem Publikum ein Bericht abgestattet, der die
Uebereinstimmung mit den wirklichen Thatsachen nicht immer ängstlich beobach¬
tete, der aber dafür den Vorzug einer gut componirter Erzählung hatte.
Dieses Verhältniß hat sich jetzt geändert. Von Zeit zu Zeit sehen sich unsere
Regierungen gemüßigt, in ihren Noten unmittelbar zum Publikum zu reden,
oder sie gehen auch wohl unter die Journalisten und schreiben Broschüren,
Zeitungsartikel und offene Briefe. Seit mehreren Wochen ist das englische
Parlament und der preußische Landtag zusammen, man hat aber in demsel¬
ben keine andere Aufklärung über die große Politik Europas erhalten, als
was man bereits vor ihrem Zusammentritt aus den officiellen Journal-Arti¬
keln und offenen Briefen wußte.

Was den preußischen Landtag betrifft, so bekennen mir, daß sein impo-
nirendes Schweigen anfängt uns peinlich zu werden. Wir gehören nicht zu
denen, die ihm zumuthen, sich täglich über die große Politik vernehmen zu
lassen: wir wissen, daß er ernstere, tiefer in das Volksleben eingreifende Ge¬
schäfte hat, als die politische Phrase; aber die Sachlage ist jetzt von der Art.
daß Preußens Haltung in der auswärtigen Politik sür das Leben und Gedei¬
he" des Staats viel wichtiger ist als alle jene Geschäfte, ja daß in letzter
Instanz von ihr alles übrige abhängt. Welcher Partei wir uns in den gro¬
ßen allgemeinen Fragen anschließen, die wird uns in kurzem auch in den
innern Angelegenheiten beherrschen. Schon das beharrliche Schweigen der
gegenwärtigen Opposition deutet darauf hin, daß sie keinen Grund hat, nach
dieser Seite in, den Ideen der Negierung etwas für sie Nachtheiliges zu cr-


Grenzbotm I. 18L0, 41
Zwei Unter.

In früheren Zeiten, wenn die politische Situation Europas unklar war
und man keine Ahnung davon hatte, waS der folgende Tag bringen werde,
harrte man ungeduldig auf die Eröffnung der parlamentarischen Versammlun¬
gen, überzeugt, daß dann die Minister genöthigt sein würden, den Landes-
vertrctern Rede zu stehen. Ohne diese äußere Nöthigung war es nicht Sitte,
daß Staatsmänner und Diplomaten das Publikum in ihr Vertrauen zöge».
Die Geschäfte wurden so zurecht gelegt, daß sobald die Königin von England
ihr Parlament eröffnete, wenigstens der Schein eines Abschlusses vorhanden
war, und es wurde alsdann dem Publikum ein Bericht abgestattet, der die
Uebereinstimmung mit den wirklichen Thatsachen nicht immer ängstlich beobach¬
tete, der aber dafür den Vorzug einer gut componirter Erzählung hatte.
Dieses Verhältniß hat sich jetzt geändert. Von Zeit zu Zeit sehen sich unsere
Regierungen gemüßigt, in ihren Noten unmittelbar zum Publikum zu reden,
oder sie gehen auch wohl unter die Journalisten und schreiben Broschüren,
Zeitungsartikel und offene Briefe. Seit mehreren Wochen ist das englische
Parlament und der preußische Landtag zusammen, man hat aber in demsel¬
ben keine andere Aufklärung über die große Politik Europas erhalten, als
was man bereits vor ihrem Zusammentritt aus den officiellen Journal-Arti¬
keln und offenen Briefen wußte.

Was den preußischen Landtag betrifft, so bekennen mir, daß sein impo-
nirendes Schweigen anfängt uns peinlich zu werden. Wir gehören nicht zu
denen, die ihm zumuthen, sich täglich über die große Politik vernehmen zu
lassen: wir wissen, daß er ernstere, tiefer in das Volksleben eingreifende Ge¬
schäfte hat, als die politische Phrase; aber die Sachlage ist jetzt von der Art.
daß Preußens Haltung in der auswärtigen Politik sür das Leben und Gedei¬
he» des Staats viel wichtiger ist als alle jene Geschäfte, ja daß in letzter
Instanz von ihr alles übrige abhängt. Welcher Partei wir uns in den gro¬
ßen allgemeinen Fragen anschließen, die wird uns in kurzem auch in den
innern Angelegenheiten beherrschen. Schon das beharrliche Schweigen der
gegenwärtigen Opposition deutet darauf hin, daß sie keinen Grund hat, nach
dieser Seite in, den Ideen der Negierung etwas für sie Nachtheiliges zu cr-


Grenzbotm I. 18L0, 41
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[0333] Zwei Unter. In früheren Zeiten, wenn die politische Situation Europas unklar war und man keine Ahnung davon hatte, waS der folgende Tag bringen werde, harrte man ungeduldig auf die Eröffnung der parlamentarischen Versammlun¬ gen, überzeugt, daß dann die Minister genöthigt sein würden, den Landes- vertrctern Rede zu stehen. Ohne diese äußere Nöthigung war es nicht Sitte, daß Staatsmänner und Diplomaten das Publikum in ihr Vertrauen zöge». Die Geschäfte wurden so zurecht gelegt, daß sobald die Königin von England ihr Parlament eröffnete, wenigstens der Schein eines Abschlusses vorhanden war, und es wurde alsdann dem Publikum ein Bericht abgestattet, der die Uebereinstimmung mit den wirklichen Thatsachen nicht immer ängstlich beobach¬ tete, der aber dafür den Vorzug einer gut componirter Erzählung hatte. Dieses Verhältniß hat sich jetzt geändert. Von Zeit zu Zeit sehen sich unsere Regierungen gemüßigt, in ihren Noten unmittelbar zum Publikum zu reden, oder sie gehen auch wohl unter die Journalisten und schreiben Broschüren, Zeitungsartikel und offene Briefe. Seit mehreren Wochen ist das englische Parlament und der preußische Landtag zusammen, man hat aber in demsel¬ ben keine andere Aufklärung über die große Politik Europas erhalten, als was man bereits vor ihrem Zusammentritt aus den officiellen Journal-Arti¬ keln und offenen Briefen wußte. Was den preußischen Landtag betrifft, so bekennen mir, daß sein impo- nirendes Schweigen anfängt uns peinlich zu werden. Wir gehören nicht zu denen, die ihm zumuthen, sich täglich über die große Politik vernehmen zu lassen: wir wissen, daß er ernstere, tiefer in das Volksleben eingreifende Ge¬ schäfte hat, als die politische Phrase; aber die Sachlage ist jetzt von der Art. daß Preußens Haltung in der auswärtigen Politik sür das Leben und Gedei¬ he» des Staats viel wichtiger ist als alle jene Geschäfte, ja daß in letzter Instanz von ihr alles übrige abhängt. Welcher Partei wir uns in den gro¬ ßen allgemeinen Fragen anschließen, die wird uns in kurzem auch in den innern Angelegenheiten beherrschen. Schon das beharrliche Schweigen der gegenwärtigen Opposition deutet darauf hin, daß sie keinen Grund hat, nach dieser Seite in, den Ideen der Negierung etwas für sie Nachtheiliges zu cr- Grenzbotm I. 18L0, 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/333>, abgerufen am 29.04.2024.