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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Neurussische Städte.
i.
Nicolajeff.

Es hielt schwer, noch ein Plätzchen zu finden an Bord der Nussalka, der
Wassernixe, die allwöchentlich von Odessa nach Nicolajeff schwimmt. Niemals
habe ich ein Dampfboot so gedrängt voll Menschen gesehen; bei seiner Klein-
heit, der Unzuverlüssigkeit seiner Maschine und der geringen Befähigung russi¬
scher Localschiffscapitäne hätte man fast bange werden können, wenn die
Fahrt nicht gar zu kurz gewesen wäre. Mr liefen aus dem nur für die
russischen Schiffe bestimmten Hafen; die imposante Fronte der Stadt lag in
ihren gewöhnlichen rothen Staubschleier gehüllt, der auch uns noch anhäng¬
lich nachflatterte bis weit hinaus aufs Meer. Die Küste bleibt auf der linken
Seite fortwährend in Sicht, ebenso Stunden lang die Stadt. Gegen Mittag
taucht nach etwa vierstündiger Fahrt zur Rechten eine lange Erdzunge auf,
deren äußerste Spitze von zahllosem wildem Wassergeflügel bevölkert ist. Hier
steht die Erdsestung Kmburn, die im Krimkrieg von den Engländern genom¬
men wurde, trotz ihrer 240 Kanonen, von welchen freilich nur 40 montirt
waren. Bei Kinburn beginnt der Liman des Dniepr und des Bug, ein
träges Brackwasser, gleich einem Landsee von beträchtlicher Breite, wie es
alle in das schwarze Meer mündenden Flüsse erzeugen. Jenseits auf dem
steil abschüssigen Ufer der linken Seite erhebt sich Oezakow. einst eine bedeu¬
tende Festung, 1788 von Potemkin und Suwarow mit furchtbaren Opfern
erobert, gegenwärtig geschleift und gänzlich heruntergekommen. Auf ihre
Kosten ist das weiterhin aus hohem, zerrissenem Kalkufer gelegene Stanislaw
zur Bedeutung gelangt. Hier ankern die nach Cherson bestimmten Schiffe
mit Tiefgang, welche in die seichte Dnieprmündung nicht einzulaufen vermögen
und ihre Ladung auf Lichtcrschiffe löschen müssen; dann beginnen zur Rechten
wntgedehnte, lichte Eichenwaldungen, sie gehören zu einer der Besitzungen des
Barons von Stieglitz in Petersburg. Während wir vorbeifuhren, hatten wir
den Anblick eines großartigen Naturschauspiels, ein Heuschreckenzug von min¬
destens 20 Werst Länge stand über der Halbinsel, das breite Wasser war
übersäet mit den Leichen der Insecten, die Schaufeln des Dampfers wurden
durch ihre Massen gehemmt. Viele kleinere und größere Fahrzeuge belebten
in erfreulicher Weise die spiegelglatte Wasserfläche, Schleppdampfer mit mäch¬
tigen Holzstößen im Tau ächzten mühsam vorüber. Plötzlich erhob sich ein
wunderbarer Bau mitten aus dem Wasser vor unsern Augen. Es war das
Linienschiff Sinope, ein Fahrzeug, das zu 130 Kanonen gebohrt ist, gegen¬
wärtig aber keine einzige trägt und vollständig abgetakelt ist, da Nußland


Neurussische Städte.
i.
Nicolajeff.

Es hielt schwer, noch ein Plätzchen zu finden an Bord der Nussalka, der
Wassernixe, die allwöchentlich von Odessa nach Nicolajeff schwimmt. Niemals
habe ich ein Dampfboot so gedrängt voll Menschen gesehen; bei seiner Klein-
heit, der Unzuverlüssigkeit seiner Maschine und der geringen Befähigung russi¬
scher Localschiffscapitäne hätte man fast bange werden können, wenn die
Fahrt nicht gar zu kurz gewesen wäre. Mr liefen aus dem nur für die
russischen Schiffe bestimmten Hafen; die imposante Fronte der Stadt lag in
ihren gewöhnlichen rothen Staubschleier gehüllt, der auch uns noch anhäng¬
lich nachflatterte bis weit hinaus aufs Meer. Die Küste bleibt auf der linken
Seite fortwährend in Sicht, ebenso Stunden lang die Stadt. Gegen Mittag
taucht nach etwa vierstündiger Fahrt zur Rechten eine lange Erdzunge auf,
deren äußerste Spitze von zahllosem wildem Wassergeflügel bevölkert ist. Hier
steht die Erdsestung Kmburn, die im Krimkrieg von den Engländern genom¬
men wurde, trotz ihrer 240 Kanonen, von welchen freilich nur 40 montirt
waren. Bei Kinburn beginnt der Liman des Dniepr und des Bug, ein
träges Brackwasser, gleich einem Landsee von beträchtlicher Breite, wie es
alle in das schwarze Meer mündenden Flüsse erzeugen. Jenseits auf dem
steil abschüssigen Ufer der linken Seite erhebt sich Oezakow. einst eine bedeu¬
tende Festung, 1788 von Potemkin und Suwarow mit furchtbaren Opfern
erobert, gegenwärtig geschleift und gänzlich heruntergekommen. Auf ihre
Kosten ist das weiterhin aus hohem, zerrissenem Kalkufer gelegene Stanislaw
zur Bedeutung gelangt. Hier ankern die nach Cherson bestimmten Schiffe
mit Tiefgang, welche in die seichte Dnieprmündung nicht einzulaufen vermögen
und ihre Ladung auf Lichtcrschiffe löschen müssen; dann beginnen zur Rechten
wntgedehnte, lichte Eichenwaldungen, sie gehören zu einer der Besitzungen des
Barons von Stieglitz in Petersburg. Während wir vorbeifuhren, hatten wir
den Anblick eines großartigen Naturschauspiels, ein Heuschreckenzug von min¬
destens 20 Werst Länge stand über der Halbinsel, das breite Wasser war
übersäet mit den Leichen der Insecten, die Schaufeln des Dampfers wurden
durch ihre Massen gehemmt. Viele kleinere und größere Fahrzeuge belebten
in erfreulicher Weise die spiegelglatte Wasserfläche, Schleppdampfer mit mäch¬
tigen Holzstößen im Tau ächzten mühsam vorüber. Plötzlich erhob sich ein
wunderbarer Bau mitten aus dem Wasser vor unsern Augen. Es war das
Linienschiff Sinope, ein Fahrzeug, das zu 130 Kanonen gebohrt ist, gegen¬
wärtig aber keine einzige trägt und vollständig abgetakelt ist, da Nußland


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[0470] Neurussische Städte. i. Nicolajeff. Es hielt schwer, noch ein Plätzchen zu finden an Bord der Nussalka, der Wassernixe, die allwöchentlich von Odessa nach Nicolajeff schwimmt. Niemals habe ich ein Dampfboot so gedrängt voll Menschen gesehen; bei seiner Klein- heit, der Unzuverlüssigkeit seiner Maschine und der geringen Befähigung russi¬ scher Localschiffscapitäne hätte man fast bange werden können, wenn die Fahrt nicht gar zu kurz gewesen wäre. Mr liefen aus dem nur für die russischen Schiffe bestimmten Hafen; die imposante Fronte der Stadt lag in ihren gewöhnlichen rothen Staubschleier gehüllt, der auch uns noch anhäng¬ lich nachflatterte bis weit hinaus aufs Meer. Die Küste bleibt auf der linken Seite fortwährend in Sicht, ebenso Stunden lang die Stadt. Gegen Mittag taucht nach etwa vierstündiger Fahrt zur Rechten eine lange Erdzunge auf, deren äußerste Spitze von zahllosem wildem Wassergeflügel bevölkert ist. Hier steht die Erdsestung Kmburn, die im Krimkrieg von den Engländern genom¬ men wurde, trotz ihrer 240 Kanonen, von welchen freilich nur 40 montirt waren. Bei Kinburn beginnt der Liman des Dniepr und des Bug, ein träges Brackwasser, gleich einem Landsee von beträchtlicher Breite, wie es alle in das schwarze Meer mündenden Flüsse erzeugen. Jenseits auf dem steil abschüssigen Ufer der linken Seite erhebt sich Oezakow. einst eine bedeu¬ tende Festung, 1788 von Potemkin und Suwarow mit furchtbaren Opfern erobert, gegenwärtig geschleift und gänzlich heruntergekommen. Auf ihre Kosten ist das weiterhin aus hohem, zerrissenem Kalkufer gelegene Stanislaw zur Bedeutung gelangt. Hier ankern die nach Cherson bestimmten Schiffe mit Tiefgang, welche in die seichte Dnieprmündung nicht einzulaufen vermögen und ihre Ladung auf Lichtcrschiffe löschen müssen; dann beginnen zur Rechten wntgedehnte, lichte Eichenwaldungen, sie gehören zu einer der Besitzungen des Barons von Stieglitz in Petersburg. Während wir vorbeifuhren, hatten wir den Anblick eines großartigen Naturschauspiels, ein Heuschreckenzug von min¬ destens 20 Werst Länge stand über der Halbinsel, das breite Wasser war übersäet mit den Leichen der Insecten, die Schaufeln des Dampfers wurden durch ihre Massen gehemmt. Viele kleinere und größere Fahrzeuge belebten in erfreulicher Weise die spiegelglatte Wasserfläche, Schleppdampfer mit mäch¬ tigen Holzstößen im Tau ächzten mühsam vorüber. Plötzlich erhob sich ein wunderbarer Bau mitten aus dem Wasser vor unsern Augen. Es war das Linienschiff Sinope, ein Fahrzeug, das zu 130 Kanonen gebohrt ist, gegen¬ wärtig aber keine einzige trägt und vollständig abgetakelt ist, da Nußland

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/470>, abgerufen am 28.04.2024.