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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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nach dem Falle von Sebastopol keine Kriegsfahrzeuge mehr im schwarzen
Meere haben darf. Der ungeheure Rumpf, neben welchem unser Dcunpsboot
wie ein kleiner Nachen lag, bildet jetzt eine Art Kaserne und ist immer noch
mit tausend Händen bemannt. Da wir den Capitän desselben an Bord hatten,
so wurden wir mit Musik begrüßt, hoch über uns stand die Equipage in
Reihe und Glied, alle Galerien waren besetzt, aus jeder Luke schaute ein Kopf.
Als wir weiter fuhren, ward in der Ferne noch ein zweiter solcher Schiffs¬
leichnam sichtbar, noch größer wie die Sinope, für 142 Kanonen eingerichtet,
jetzt aber ebenfalls ganz abgetakelt.

Es dauert lange, ehe man gewahr wird, daß man in den Bug ein¬
gelaufen ist, der mit trägem Strom in den Liman mündet. , Allmälich aber
rücken die Ufer zusammen und werden schroffer. Ueberall sieht man Schanzen.
Ueberbleibsel des Krimkriegs; das Wasser erscheint wie ein grüner Schlamm,
es ist ganz und gar mit Algen angefüllt, wie ein Sargassomeer, welche die
Fahrt sehr erschweren. Auf einer Insel mitten im Fluß erhebt sich ein gro¬
ßes aber nicht vollendetes Fort, welches zum Schutze Nicolajcffs in aller Eile
errichtet worden war. Die Aussicht ins Land hinein ist wenig erfreulich,
überall Steppe ohne Abwechselung. Noch viel minder ist es der Ausenthalt
an Bord, die Unordnung ist groß, man weiß kaum wohin man den Fuß
setzen soll, endlich erscheint zur Rechten das Ziel: die Stadt Nicolajeff. Die
Menge ergießt sich ans Land und Jedermann sorgt sür sein weiteres Fort¬
kommen.

Nicolajeff liegt auf einer Halbinsel, die vom Zusammenfluß des Bug mit
dem Ingut gebildet wird. Die Anlage der Stadt datirt erst vom Jahre
1739. ihre Bedeutung aber vom Czar Nicolaus her, dem mehr als drei Vier¬
theile derselben ihre Entstehung verdanken. Ursprünglich nur mit Rücksicht
auf den Flußverkehr gegründet, hob Nicolajeff sich nach und nach zum Wool-
wich und Toulon, zum Sitze der Admiralität des schwarzen Meeres. Man
sieht es der Stadt auf den ersten Augenblick an, daß sie ein künstliches Ge¬
wächs ist. Solche breite, endlos lange, schnurgrade Straßen, solche regel¬
mäßig im rechten Winkel abgezirkelte Quartiere, solche ermüdende Ueberein¬
stimmung der Bauart besitzen nur die Allerhöchst befohlenen Städte, deren wir
auch in Deutschland einige auszuweisen haben. Der Umfang Nicolajeffs ist
außerordentlich groß, von einem Ende der Stadt bis zum andern hat man
sieben Werst zurückzulegen. Meine Troika, mit prächtigen Tatarenkleppern be¬
spannt, flog munter dahin; dennoch brauchte ich eine halbe Stunde bis zum
Hotel Se. Petersburg, dem ersten Gasthof der Stadt. Aber das will nicht
viel sagen; selbst bescheidenen Ansprüchen wird, namentlich in Bezug aus Rein¬
lichkeit, in südrussischen Hotels wenig Rechnung getragen. In den meisten
derselben hat man deutsche Kellner; es scheint- aber als habe man sich die


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nach dem Falle von Sebastopol keine Kriegsfahrzeuge mehr im schwarzen
Meere haben darf. Der ungeheure Rumpf, neben welchem unser Dcunpsboot
wie ein kleiner Nachen lag, bildet jetzt eine Art Kaserne und ist immer noch
mit tausend Händen bemannt. Da wir den Capitän desselben an Bord hatten,
so wurden wir mit Musik begrüßt, hoch über uns stand die Equipage in
Reihe und Glied, alle Galerien waren besetzt, aus jeder Luke schaute ein Kopf.
Als wir weiter fuhren, ward in der Ferne noch ein zweiter solcher Schiffs¬
leichnam sichtbar, noch größer wie die Sinope, für 142 Kanonen eingerichtet,
jetzt aber ebenfalls ganz abgetakelt.

Es dauert lange, ehe man gewahr wird, daß man in den Bug ein¬
gelaufen ist, der mit trägem Strom in den Liman mündet. , Allmälich aber
rücken die Ufer zusammen und werden schroffer. Ueberall sieht man Schanzen.
Ueberbleibsel des Krimkriegs; das Wasser erscheint wie ein grüner Schlamm,
es ist ganz und gar mit Algen angefüllt, wie ein Sargassomeer, welche die
Fahrt sehr erschweren. Auf einer Insel mitten im Fluß erhebt sich ein gro¬
ßes aber nicht vollendetes Fort, welches zum Schutze Nicolajcffs in aller Eile
errichtet worden war. Die Aussicht ins Land hinein ist wenig erfreulich,
überall Steppe ohne Abwechselung. Noch viel minder ist es der Ausenthalt
an Bord, die Unordnung ist groß, man weiß kaum wohin man den Fuß
setzen soll, endlich erscheint zur Rechten das Ziel: die Stadt Nicolajeff. Die
Menge ergießt sich ans Land und Jedermann sorgt sür sein weiteres Fort¬
kommen.

Nicolajeff liegt auf einer Halbinsel, die vom Zusammenfluß des Bug mit
dem Ingut gebildet wird. Die Anlage der Stadt datirt erst vom Jahre
1739. ihre Bedeutung aber vom Czar Nicolaus her, dem mehr als drei Vier¬
theile derselben ihre Entstehung verdanken. Ursprünglich nur mit Rücksicht
auf den Flußverkehr gegründet, hob Nicolajeff sich nach und nach zum Wool-
wich und Toulon, zum Sitze der Admiralität des schwarzen Meeres. Man
sieht es der Stadt auf den ersten Augenblick an, daß sie ein künstliches Ge¬
wächs ist. Solche breite, endlos lange, schnurgrade Straßen, solche regel¬
mäßig im rechten Winkel abgezirkelte Quartiere, solche ermüdende Ueberein¬
stimmung der Bauart besitzen nur die Allerhöchst befohlenen Städte, deren wir
auch in Deutschland einige auszuweisen haben. Der Umfang Nicolajeffs ist
außerordentlich groß, von einem Ende der Stadt bis zum andern hat man
sieben Werst zurückzulegen. Meine Troika, mit prächtigen Tatarenkleppern be¬
spannt, flog munter dahin; dennoch brauchte ich eine halbe Stunde bis zum
Hotel Se. Petersburg, dem ersten Gasthof der Stadt. Aber das will nicht
viel sagen; selbst bescheidenen Ansprüchen wird, namentlich in Bezug aus Rein¬
lichkeit, in südrussischen Hotels wenig Rechnung getragen. In den meisten
derselben hat man deutsche Kellner; es scheint- aber als habe man sich die


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[0471] nach dem Falle von Sebastopol keine Kriegsfahrzeuge mehr im schwarzen Meere haben darf. Der ungeheure Rumpf, neben welchem unser Dcunpsboot wie ein kleiner Nachen lag, bildet jetzt eine Art Kaserne und ist immer noch mit tausend Händen bemannt. Da wir den Capitän desselben an Bord hatten, so wurden wir mit Musik begrüßt, hoch über uns stand die Equipage in Reihe und Glied, alle Galerien waren besetzt, aus jeder Luke schaute ein Kopf. Als wir weiter fuhren, ward in der Ferne noch ein zweiter solcher Schiffs¬ leichnam sichtbar, noch größer wie die Sinope, für 142 Kanonen eingerichtet, jetzt aber ebenfalls ganz abgetakelt. Es dauert lange, ehe man gewahr wird, daß man in den Bug ein¬ gelaufen ist, der mit trägem Strom in den Liman mündet. , Allmälich aber rücken die Ufer zusammen und werden schroffer. Ueberall sieht man Schanzen. Ueberbleibsel des Krimkriegs; das Wasser erscheint wie ein grüner Schlamm, es ist ganz und gar mit Algen angefüllt, wie ein Sargassomeer, welche die Fahrt sehr erschweren. Auf einer Insel mitten im Fluß erhebt sich ein gro¬ ßes aber nicht vollendetes Fort, welches zum Schutze Nicolajcffs in aller Eile errichtet worden war. Die Aussicht ins Land hinein ist wenig erfreulich, überall Steppe ohne Abwechselung. Noch viel minder ist es der Ausenthalt an Bord, die Unordnung ist groß, man weiß kaum wohin man den Fuß setzen soll, endlich erscheint zur Rechten das Ziel: die Stadt Nicolajeff. Die Menge ergießt sich ans Land und Jedermann sorgt sür sein weiteres Fort¬ kommen. Nicolajeff liegt auf einer Halbinsel, die vom Zusammenfluß des Bug mit dem Ingut gebildet wird. Die Anlage der Stadt datirt erst vom Jahre 1739. ihre Bedeutung aber vom Czar Nicolaus her, dem mehr als drei Vier¬ theile derselben ihre Entstehung verdanken. Ursprünglich nur mit Rücksicht auf den Flußverkehr gegründet, hob Nicolajeff sich nach und nach zum Wool- wich und Toulon, zum Sitze der Admiralität des schwarzen Meeres. Man sieht es der Stadt auf den ersten Augenblick an, daß sie ein künstliches Ge¬ wächs ist. Solche breite, endlos lange, schnurgrade Straßen, solche regel¬ mäßig im rechten Winkel abgezirkelte Quartiere, solche ermüdende Ueberein¬ stimmung der Bauart besitzen nur die Allerhöchst befohlenen Städte, deren wir auch in Deutschland einige auszuweisen haben. Der Umfang Nicolajeffs ist außerordentlich groß, von einem Ende der Stadt bis zum andern hat man sieben Werst zurückzulegen. Meine Troika, mit prächtigen Tatarenkleppern be¬ spannt, flog munter dahin; dennoch brauchte ich eine halbe Stunde bis zum Hotel Se. Petersburg, dem ersten Gasthof der Stadt. Aber das will nicht viel sagen; selbst bescheidenen Ansprüchen wird, namentlich in Bezug aus Rein¬ lichkeit, in südrussischen Hotels wenig Rechnung getragen. In den meisten derselben hat man deutsche Kellner; es scheint- aber als habe man sich die 55"°

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/471>, abgerufen am 14.05.2024.