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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Ästhetische Streifzüge.
. 5.

"Gewisse Zustände des Menschen, die wir keineswegs billigen, gewisse
sittliche Flecken an dritten Personen haben für unsere Phantasie einen beson¬
dern Reiz. Will man uns ein Gleichniß erlauben, so möchten wir sagen, es
ist damit, wie mit dem WUdpret, das dem feinen Gaumen mit einer kleinen
Andeutung von Fäulniß weit besser als frisch gebraten schmeckt. Eine geschie¬
dene Frau, ein Renegat machen auf uns einen besonders reizenden Eindruck.
Personen, die uns sonst vielleicht nur merkwürdig und liebenswürdig vorkamen,
erscheinen uns nun als wundersam, und es ist nicht zu leugnen, daß die Ne-
ligionsveränderung Winckelmanns das Romantische seines Lebens und Wesens
vor unsrer Einbildungskraft merklich erhöht."

Goethe ist es, der so spricht, in seiner Schrift über Winckelmann, 1805,
also in einer Zeit, wo die ehemals revolutionäre poetische Jugend, von dem
süßen Anblick der Marienbilder und ähnlichen Dingen verlockt, in dem Schooß
der allein seligmachenden Kirche das Heil für ihre müden und gequälten Seelen
suchte. Man kann denken, welchen Anstoß damals diese "frivole" Auffassung
erregen mußte; und in der That hat keine von den Schriften des "großen
Heiden" das neumodische, reflectirt katholische Christenthum so tief verletzt,
als diese Apologie eines Geistesverwandten.

^Die Stelle siel uns ein, als wir die Selbstbiographie eines jungen Con-
vertiten lasen: "Ernst Kochs Gedichte, aus dessen Nachlaß gesammelt und
herausgegeben von einem Freunde des Verstorbenen." E. Koch ist der Ver¬
fasser des vor kurzem neu herausgegebenen Capriccio "Prinz Rosa-Stramin."
dessen echt poetische Stimmung allgemeine Würdigung gefunden hat. "

Ernst Koch wurde 3. Juni 1808 in Niedersachsen geboren. Sein Vater,
ein Justizbeamter, wurde von einem Amt auf das andere versetzt, bis er 1821
nach Kassel kam. "Hier, "erzählt Koch," entwickelten und erweiterten bald der
höhere Unterricht, der Besuch des Theaters und das Nesidenzleven die poeti¬
schen Anlagen des Gymnasiasten; hier dichtete ich schon in der Tertia, lieferte
in Secunda himmelstürmende Aufsätze, bei denen dem würdigen Lehrer der
Maßstab der schulmäßigen Prosa versagte, und durchschwärmte in Prima
alle Leiden und Freuden einer poetischen Gymnasiasten-Liebe." Schon im
17. Jahre bezog er die Universität Marburg, promovirte daselbst als Doctor
Juris 1829, versuchte sich im folgenden Jahr in Berlin als Privatdocent zu
habilitiren und wurde dann als Referendarius im kurhessischen Dienst an-


Ästhetische Streifzüge.
. 5.

„Gewisse Zustände des Menschen, die wir keineswegs billigen, gewisse
sittliche Flecken an dritten Personen haben für unsere Phantasie einen beson¬
dern Reiz. Will man uns ein Gleichniß erlauben, so möchten wir sagen, es
ist damit, wie mit dem WUdpret, das dem feinen Gaumen mit einer kleinen
Andeutung von Fäulniß weit besser als frisch gebraten schmeckt. Eine geschie¬
dene Frau, ein Renegat machen auf uns einen besonders reizenden Eindruck.
Personen, die uns sonst vielleicht nur merkwürdig und liebenswürdig vorkamen,
erscheinen uns nun als wundersam, und es ist nicht zu leugnen, daß die Ne-
ligionsveränderung Winckelmanns das Romantische seines Lebens und Wesens
vor unsrer Einbildungskraft merklich erhöht."

Goethe ist es, der so spricht, in seiner Schrift über Winckelmann, 1805,
also in einer Zeit, wo die ehemals revolutionäre poetische Jugend, von dem
süßen Anblick der Marienbilder und ähnlichen Dingen verlockt, in dem Schooß
der allein seligmachenden Kirche das Heil für ihre müden und gequälten Seelen
suchte. Man kann denken, welchen Anstoß damals diese „frivole" Auffassung
erregen mußte; und in der That hat keine von den Schriften des „großen
Heiden" das neumodische, reflectirt katholische Christenthum so tief verletzt,
als diese Apologie eines Geistesverwandten.

^Die Stelle siel uns ein, als wir die Selbstbiographie eines jungen Con-
vertiten lasen: „Ernst Kochs Gedichte, aus dessen Nachlaß gesammelt und
herausgegeben von einem Freunde des Verstorbenen." E. Koch ist der Ver¬
fasser des vor kurzem neu herausgegebenen Capriccio „Prinz Rosa-Stramin."
dessen echt poetische Stimmung allgemeine Würdigung gefunden hat. "

Ernst Koch wurde 3. Juni 1808 in Niedersachsen geboren. Sein Vater,
ein Justizbeamter, wurde von einem Amt auf das andere versetzt, bis er 1821
nach Kassel kam. „Hier, „erzählt Koch," entwickelten und erweiterten bald der
höhere Unterricht, der Besuch des Theaters und das Nesidenzleven die poeti¬
schen Anlagen des Gymnasiasten; hier dichtete ich schon in der Tertia, lieferte
in Secunda himmelstürmende Aufsätze, bei denen dem würdigen Lehrer der
Maßstab der schulmäßigen Prosa versagte, und durchschwärmte in Prima
alle Leiden und Freuden einer poetischen Gymnasiasten-Liebe." Schon im
17. Jahre bezog er die Universität Marburg, promovirte daselbst als Doctor
Juris 1829, versuchte sich im folgenden Jahr in Berlin als Privatdocent zu
habilitiren und wurde dann als Referendarius im kurhessischen Dienst an-


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[0526] Ästhetische Streifzüge. . 5. „Gewisse Zustände des Menschen, die wir keineswegs billigen, gewisse sittliche Flecken an dritten Personen haben für unsere Phantasie einen beson¬ dern Reiz. Will man uns ein Gleichniß erlauben, so möchten wir sagen, es ist damit, wie mit dem WUdpret, das dem feinen Gaumen mit einer kleinen Andeutung von Fäulniß weit besser als frisch gebraten schmeckt. Eine geschie¬ dene Frau, ein Renegat machen auf uns einen besonders reizenden Eindruck. Personen, die uns sonst vielleicht nur merkwürdig und liebenswürdig vorkamen, erscheinen uns nun als wundersam, und es ist nicht zu leugnen, daß die Ne- ligionsveränderung Winckelmanns das Romantische seines Lebens und Wesens vor unsrer Einbildungskraft merklich erhöht." Goethe ist es, der so spricht, in seiner Schrift über Winckelmann, 1805, also in einer Zeit, wo die ehemals revolutionäre poetische Jugend, von dem süßen Anblick der Marienbilder und ähnlichen Dingen verlockt, in dem Schooß der allein seligmachenden Kirche das Heil für ihre müden und gequälten Seelen suchte. Man kann denken, welchen Anstoß damals diese „frivole" Auffassung erregen mußte; und in der That hat keine von den Schriften des „großen Heiden" das neumodische, reflectirt katholische Christenthum so tief verletzt, als diese Apologie eines Geistesverwandten. ^Die Stelle siel uns ein, als wir die Selbstbiographie eines jungen Con- vertiten lasen: „Ernst Kochs Gedichte, aus dessen Nachlaß gesammelt und herausgegeben von einem Freunde des Verstorbenen." E. Koch ist der Ver¬ fasser des vor kurzem neu herausgegebenen Capriccio „Prinz Rosa-Stramin." dessen echt poetische Stimmung allgemeine Würdigung gefunden hat. " Ernst Koch wurde 3. Juni 1808 in Niedersachsen geboren. Sein Vater, ein Justizbeamter, wurde von einem Amt auf das andere versetzt, bis er 1821 nach Kassel kam. „Hier, „erzählt Koch," entwickelten und erweiterten bald der höhere Unterricht, der Besuch des Theaters und das Nesidenzleven die poeti¬ schen Anlagen des Gymnasiasten; hier dichtete ich schon in der Tertia, lieferte in Secunda himmelstürmende Aufsätze, bei denen dem würdigen Lehrer der Maßstab der schulmäßigen Prosa versagte, und durchschwärmte in Prima alle Leiden und Freuden einer poetischen Gymnasiasten-Liebe." Schon im 17. Jahre bezog er die Universität Marburg, promovirte daselbst als Doctor Juris 1829, versuchte sich im folgenden Jahr in Berlin als Privatdocent zu habilitiren und wurde dann als Referendarius im kurhessischen Dienst an-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/526>, abgerufen am 29.04.2024.