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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. II. Band.

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Literarische Streisziige.

Von Spohrs Selbstbiographie (Göttingen. G. H. Wigand) sind die bei¬
den ersten Lieferungen erschienen; nach Vollendung des Werks, das einer der
interessantesten Beiträge zur neuern Kunstgeschichte zu werden verspricht, geben
wir eine ausführliche Mittheilung.

Von Fernau Caballeros ausgewählten Werken (übersetzt von Lemcke
und Ferd. Wolf) (Paderborn, Schöningh) sind vier neue Bände erschienen;
sie enthalten außer einer kleinen Criminalgeschichte ("das Glück schenkt nichts,
leiht nur;") zwei größere Romane: "Ella und Lagrimas." Ueber die mittel¬
alterlich katholische Romantik der Verfasserin ist schon früher das nöthige ge¬
sagt. Der zweite Roman enthält zwar auch einige bedeutende Charakterzüge,
aber der Inhalt entspricht zu sehr dem Titel, die Heldin ist zu schwächlich,
thränenreich und leidend, und der Contrast ihres scheußlichen Vaters Roque
und ihrer Freundin, der stolzen und lustigen Reina genügt nicht, das blasse
Bild etwas lebhafter zu färben. Dagegen ist Ella ein sehr anziehendes Ge¬
mälde: nicht die eigentliche Liebesgeschichte mit der klösterlichen Tendenz, aber
die alte gute Dame Donna Isavel Orrea, Wittwe des Bürgermeisters von
Sevilla Don Manuel Farofan y Calatraoa ist eine prächtige Figur, und
ihre sämmtlichen Umgebungen, die adelstolze Schwägerin und die französisch
gebildete Nichte, mit sämmtlichen Bedienten und Zofen, sind ein vortreffliches
Genrebild.

Eine wohlgeschriebene Reisegeschichte sind die "Alpenbilder aus Tirol" von
Eduard Frh. v. Badenfeld (Leobschütz. Hensel) mit zahlreichen ge¬
schickt eingewebten Erzählungen.

Hermann Brandes Trauerspiel ..Casus Gracchus" (Braunschweig,
Meyer) hat den, Fehler, daß kein eigentlicher Wendepunkt da ist. Die beiden
Parteien bekämpfen einander, die Demokratie unterliegt, es ist eben ein blos
äußerliches Verhältniß; denn daß Gracchus Schwester ihren Gemahl Scipio
umbringen läßt, hat aus den Ausgang keinen Einfluß, Viel geschickter hat
vor einigen Jahren Heydrich den ältern Gracchus behandelt: hier fordert
Tiberius in der Consequenz seiner Entwürfe durch einen Rechtsbruch sein
Schicksal heraus, und so wird uns Grund und Folge der Handlung gegen¬
wärtig.

Oswald Marbach hat das Nibelungenlied und den Sophokles über-
setzt (Leipzig, Lorck); das erste ist an sich eine undankbare Aufgabe, denn da
man sich von der alten Sprache doch nicht ganz frei machen kann, an die


Literarische Streisziige.

Von Spohrs Selbstbiographie (Göttingen. G. H. Wigand) sind die bei¬
den ersten Lieferungen erschienen; nach Vollendung des Werks, das einer der
interessantesten Beiträge zur neuern Kunstgeschichte zu werden verspricht, geben
wir eine ausführliche Mittheilung.

Von Fernau Caballeros ausgewählten Werken (übersetzt von Lemcke
und Ferd. Wolf) (Paderborn, Schöningh) sind vier neue Bände erschienen;
sie enthalten außer einer kleinen Criminalgeschichte („das Glück schenkt nichts,
leiht nur;") zwei größere Romane: „Ella und Lagrimas." Ueber die mittel¬
alterlich katholische Romantik der Verfasserin ist schon früher das nöthige ge¬
sagt. Der zweite Roman enthält zwar auch einige bedeutende Charakterzüge,
aber der Inhalt entspricht zu sehr dem Titel, die Heldin ist zu schwächlich,
thränenreich und leidend, und der Contrast ihres scheußlichen Vaters Roque
und ihrer Freundin, der stolzen und lustigen Reina genügt nicht, das blasse
Bild etwas lebhafter zu färben. Dagegen ist Ella ein sehr anziehendes Ge¬
mälde: nicht die eigentliche Liebesgeschichte mit der klösterlichen Tendenz, aber
die alte gute Dame Donna Isavel Orrea, Wittwe des Bürgermeisters von
Sevilla Don Manuel Farofan y Calatraoa ist eine prächtige Figur, und
ihre sämmtlichen Umgebungen, die adelstolze Schwägerin und die französisch
gebildete Nichte, mit sämmtlichen Bedienten und Zofen, sind ein vortreffliches
Genrebild.

Eine wohlgeschriebene Reisegeschichte sind die „Alpenbilder aus Tirol" von
Eduard Frh. v. Badenfeld (Leobschütz. Hensel) mit zahlreichen ge¬
schickt eingewebten Erzählungen.

Hermann Brandes Trauerspiel ..Casus Gracchus" (Braunschweig,
Meyer) hat den, Fehler, daß kein eigentlicher Wendepunkt da ist. Die beiden
Parteien bekämpfen einander, die Demokratie unterliegt, es ist eben ein blos
äußerliches Verhältniß; denn daß Gracchus Schwester ihren Gemahl Scipio
umbringen läßt, hat aus den Ausgang keinen Einfluß, Viel geschickter hat
vor einigen Jahren Heydrich den ältern Gracchus behandelt: hier fordert
Tiberius in der Consequenz seiner Entwürfe durch einen Rechtsbruch sein
Schicksal heraus, und so wird uns Grund und Folge der Handlung gegen¬
wärtig.

Oswald Marbach hat das Nibelungenlied und den Sophokles über-
setzt (Leipzig, Lorck); das erste ist an sich eine undankbare Aufgabe, denn da
man sich von der alten Sprache doch nicht ganz frei machen kann, an die


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[0379] Literarische Streisziige. Von Spohrs Selbstbiographie (Göttingen. G. H. Wigand) sind die bei¬ den ersten Lieferungen erschienen; nach Vollendung des Werks, das einer der interessantesten Beiträge zur neuern Kunstgeschichte zu werden verspricht, geben wir eine ausführliche Mittheilung. Von Fernau Caballeros ausgewählten Werken (übersetzt von Lemcke und Ferd. Wolf) (Paderborn, Schöningh) sind vier neue Bände erschienen; sie enthalten außer einer kleinen Criminalgeschichte („das Glück schenkt nichts, leiht nur;") zwei größere Romane: „Ella und Lagrimas." Ueber die mittel¬ alterlich katholische Romantik der Verfasserin ist schon früher das nöthige ge¬ sagt. Der zweite Roman enthält zwar auch einige bedeutende Charakterzüge, aber der Inhalt entspricht zu sehr dem Titel, die Heldin ist zu schwächlich, thränenreich und leidend, und der Contrast ihres scheußlichen Vaters Roque und ihrer Freundin, der stolzen und lustigen Reina genügt nicht, das blasse Bild etwas lebhafter zu färben. Dagegen ist Ella ein sehr anziehendes Ge¬ mälde: nicht die eigentliche Liebesgeschichte mit der klösterlichen Tendenz, aber die alte gute Dame Donna Isavel Orrea, Wittwe des Bürgermeisters von Sevilla Don Manuel Farofan y Calatraoa ist eine prächtige Figur, und ihre sämmtlichen Umgebungen, die adelstolze Schwägerin und die französisch gebildete Nichte, mit sämmtlichen Bedienten und Zofen, sind ein vortreffliches Genrebild. Eine wohlgeschriebene Reisegeschichte sind die „Alpenbilder aus Tirol" von Eduard Frh. v. Badenfeld (Leobschütz. Hensel) mit zahlreichen ge¬ schickt eingewebten Erzählungen. Hermann Brandes Trauerspiel ..Casus Gracchus" (Braunschweig, Meyer) hat den, Fehler, daß kein eigentlicher Wendepunkt da ist. Die beiden Parteien bekämpfen einander, die Demokratie unterliegt, es ist eben ein blos äußerliches Verhältniß; denn daß Gracchus Schwester ihren Gemahl Scipio umbringen läßt, hat aus den Ausgang keinen Einfluß, Viel geschickter hat vor einigen Jahren Heydrich den ältern Gracchus behandelt: hier fordert Tiberius in der Consequenz seiner Entwürfe durch einen Rechtsbruch sein Schicksal heraus, und so wird uns Grund und Folge der Handlung gegen¬ wärtig. Oswald Marbach hat das Nibelungenlied und den Sophokles über- setzt (Leipzig, Lorck); das erste ist an sich eine undankbare Aufgabe, denn da man sich von der alten Sprache doch nicht ganz frei machen kann, an die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109263/379>, abgerufen am 19.05.2024.