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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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Joch der Etikette aus, und der Naturalismus tritt bisweilen sogar mit einer
Derbheit auf, welche vom Standpunkte der Aesthetik aus gemißbilligt werden
muß. Uebrigens spielt auch auf der englischen Bühne die Ueberlieferung eine
viel größere Rolle als bei uns, und bei genauer Untersuchung möchte sich ge¬
wiß die Auffassung mancher' Hauptrolle nebst andern charakteristischen Eigen¬
thümlichkeiten bis aus die Elisabethanischc Zeit zurückführen lassen. Hier ist
alles conservativ und die Bühne nicht am wenigsten.

Auf das Lustspiel folgte ein musikalisch-declamatorisches Potpourri, das
selbst auf einem deutschen Sommertheater ausgepsiffen worden wäre und mich
schleunig nach Hause trieb.

Charakteristisch schottisch war es. daß ich das Stück selbst, welches ich
bei dieser Gelegenheit in meinem Gedächtniß aufzufrischen wünschte, in keiner
Leihbibliothek erhalten konnte. Die vornehmste und reichhaltigste gab meinem
Boten aus einem Zettel die bezeichnende Antwort mit: "Einige Buchhändler
in der Nähe von Leith Wall -- in dieser keineswegs respectabeln Gegend
befinden sich nämlich die Theater -- werden es wahrscheinlich haben. Es
ist in einer Sixpenny-Serie von Schauspielen erschienen." Das hieß mit
andern Worten: wie kann man so wenig respectabel sein, aus einer respec¬
tabeln Leihbibliothek ein Theaterstück zu verlangen!? Wenn aber die Rivals,
eine klassische Perle in der dramatischen Literatur Englands, bei den Presby-
terianern in keinem höheren Ansehen stehn, was halten sie dann von den
Schauspielen zweiten und dritten Ranges?




David Strauß.

Gespräche von Ulrich von Hütten, übersetzt und erläutert von D. F. Strauß. --
Leipzig, Brockhaus.

Nicht mit Unrecht hat das Buch noch den zweiten Titel: "Huttens Leben.
Dritter Theil," Denn so gründlich Strauß alles Material, das über Huttens
inneres und äußeres Leben aufklären kann, zusammengeführt und durch¬
gearbeitet, so künstlerisch er es gruppirt hat! -- von einem Schriftsteller
haben wir so lange ein unvollkommenes Bild, als uns seine Schriften unbe¬
kannt sind. Für die Gelehrten ist jetzt durch die große Böckingsche Ausgabe


Grenzbote" III. 1S60. 44

Joch der Etikette aus, und der Naturalismus tritt bisweilen sogar mit einer
Derbheit auf, welche vom Standpunkte der Aesthetik aus gemißbilligt werden
muß. Uebrigens spielt auch auf der englischen Bühne die Ueberlieferung eine
viel größere Rolle als bei uns, und bei genauer Untersuchung möchte sich ge¬
wiß die Auffassung mancher' Hauptrolle nebst andern charakteristischen Eigen¬
thümlichkeiten bis aus die Elisabethanischc Zeit zurückführen lassen. Hier ist
alles conservativ und die Bühne nicht am wenigsten.

Auf das Lustspiel folgte ein musikalisch-declamatorisches Potpourri, das
selbst auf einem deutschen Sommertheater ausgepsiffen worden wäre und mich
schleunig nach Hause trieb.

Charakteristisch schottisch war es. daß ich das Stück selbst, welches ich
bei dieser Gelegenheit in meinem Gedächtniß aufzufrischen wünschte, in keiner
Leihbibliothek erhalten konnte. Die vornehmste und reichhaltigste gab meinem
Boten aus einem Zettel die bezeichnende Antwort mit: „Einige Buchhändler
in der Nähe von Leith Wall — in dieser keineswegs respectabeln Gegend
befinden sich nämlich die Theater — werden es wahrscheinlich haben. Es
ist in einer Sixpenny-Serie von Schauspielen erschienen." Das hieß mit
andern Worten: wie kann man so wenig respectabel sein, aus einer respec¬
tabeln Leihbibliothek ein Theaterstück zu verlangen!? Wenn aber die Rivals,
eine klassische Perle in der dramatischen Literatur Englands, bei den Presby-
terianern in keinem höheren Ansehen stehn, was halten sie dann von den
Schauspielen zweiten und dritten Ranges?




David Strauß.

Gespräche von Ulrich von Hütten, übersetzt und erläutert von D. F. Strauß. —
Leipzig, Brockhaus.

Nicht mit Unrecht hat das Buch noch den zweiten Titel: „Huttens Leben.
Dritter Theil," Denn so gründlich Strauß alles Material, das über Huttens
inneres und äußeres Leben aufklären kann, zusammengeführt und durch¬
gearbeitet, so künstlerisch er es gruppirt hat! — von einem Schriftsteller
haben wir so lange ein unvollkommenes Bild, als uns seine Schriften unbe¬
kannt sind. Für die Gelehrten ist jetzt durch die große Böckingsche Ausgabe


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[0357] Joch der Etikette aus, und der Naturalismus tritt bisweilen sogar mit einer Derbheit auf, welche vom Standpunkte der Aesthetik aus gemißbilligt werden muß. Uebrigens spielt auch auf der englischen Bühne die Ueberlieferung eine viel größere Rolle als bei uns, und bei genauer Untersuchung möchte sich ge¬ wiß die Auffassung mancher' Hauptrolle nebst andern charakteristischen Eigen¬ thümlichkeiten bis aus die Elisabethanischc Zeit zurückführen lassen. Hier ist alles conservativ und die Bühne nicht am wenigsten. Auf das Lustspiel folgte ein musikalisch-declamatorisches Potpourri, das selbst auf einem deutschen Sommertheater ausgepsiffen worden wäre und mich schleunig nach Hause trieb. Charakteristisch schottisch war es. daß ich das Stück selbst, welches ich bei dieser Gelegenheit in meinem Gedächtniß aufzufrischen wünschte, in keiner Leihbibliothek erhalten konnte. Die vornehmste und reichhaltigste gab meinem Boten aus einem Zettel die bezeichnende Antwort mit: „Einige Buchhändler in der Nähe von Leith Wall — in dieser keineswegs respectabeln Gegend befinden sich nämlich die Theater — werden es wahrscheinlich haben. Es ist in einer Sixpenny-Serie von Schauspielen erschienen." Das hieß mit andern Worten: wie kann man so wenig respectabel sein, aus einer respec¬ tabeln Leihbibliothek ein Theaterstück zu verlangen!? Wenn aber die Rivals, eine klassische Perle in der dramatischen Literatur Englands, bei den Presby- terianern in keinem höheren Ansehen stehn, was halten sie dann von den Schauspielen zweiten und dritten Ranges? David Strauß. Gespräche von Ulrich von Hütten, übersetzt und erläutert von D. F. Strauß. — Leipzig, Brockhaus. Nicht mit Unrecht hat das Buch noch den zweiten Titel: „Huttens Leben. Dritter Theil," Denn so gründlich Strauß alles Material, das über Huttens inneres und äußeres Leben aufklären kann, zusammengeführt und durch¬ gearbeitet, so künstlerisch er es gruppirt hat! — von einem Schriftsteller haben wir so lange ein unvollkommenes Bild, als uns seine Schriften unbe¬ kannt sind. Für die Gelehrten ist jetzt durch die große Böckingsche Ausgabe Grenzbote» III. 1S60. 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/357>, abgerufen am 01.05.2024.