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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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England und die amerikanische Blockade.

Betrachten wir die Stellung, welche die englische und die französische Po¬
litik zu dem Kampf in Amerika eingenommen hat, die Urtheile der Londoner
und Pariser Presse über die Blockade der südlichen Häfen, über die Trent-Affaire,
über die Verschüttung des Hafens von Charleston, über die Motive Sewards bei
der Freigebung der Emissäre des Südens; hören wir auf die Gerüchte, die
neben den offiziellen Versicherungen des Kaisers Napoleon, Thouvenel's und Pal-
merston's in Betreff der Ereignisse in der Union und in Mexico hergehen, so
scheint es, als ob der ganze Codex des internationalen Rechts, als ob wenig¬
stens die Kapitel desselben, weinte die Rechte der Kriegführenden und Neutralen
feststellen, dringend eine Revision, mindestens eine genauere Fassung er¬
forderten.

Jene seltsame Mischung von Theorie und Praxis, welche man das Völ¬
kerrecht nennt, ist kein Gesetzbuch von unbestrittener Geltung, dessen einzelne
Artikel nur einer sorgfältigen Deutung bedürften. Es ist im Laus von etwa
zwei Jahrhunderten ganz allmälig erwachsen, theils aus den Lehren specula-
twer Juristen, wie Grotius und Vattci. theils aus den Ansprüchen mächtiger
Kriegführender, die das thun zu dürfen begehrten, was sie mit Gewalt durch¬
zusetzen vermochten, theils aus den Einsprüchen verletzter Neutralen, die sich
dem ihnen angcsonnencn Zwang nicht unterwerfen wollten, theils aus be¬
stimmten Verträgen einzelner Staaten, die deshalb nnr locale und zeitweilige
Bedeutung hatten, theils aus Urtheilt erfahrner und geachteter Admiralitäts-
gerichtc u. a. in. Das Völkerrecht war und ist noch heute, vorzüglich in den
Paragraphen, welche sich auf die Kriegführung zur See beziehen, eine Art
si ne tuirender Kompromiß zwischen Juristenrecht und Faustrecht.
Einige seiner Grundsätze sind von allen, andere nur von einigen civilisirten
Nationen anerkannt, wieder andere sind bis auf diesen Tag von den meisten
bestritten oder verschieden angewendet worden.

Das Wachsthum der Humanität hat Vieles in den Ansprüchen der Krieg¬
führenden gegen ihre Feinde wie gegen die Neutralen gemildert. Ursprünglich
hieß Krieg führen dem Gegner, dessen Unterthanen und Besitzungen jeden mög-


Grenzboten I, 1802, 31
England und die amerikanische Blockade.

Betrachten wir die Stellung, welche die englische und die französische Po¬
litik zu dem Kampf in Amerika eingenommen hat, die Urtheile der Londoner
und Pariser Presse über die Blockade der südlichen Häfen, über die Trent-Affaire,
über die Verschüttung des Hafens von Charleston, über die Motive Sewards bei
der Freigebung der Emissäre des Südens; hören wir auf die Gerüchte, die
neben den offiziellen Versicherungen des Kaisers Napoleon, Thouvenel's und Pal-
merston's in Betreff der Ereignisse in der Union und in Mexico hergehen, so
scheint es, als ob der ganze Codex des internationalen Rechts, als ob wenig¬
stens die Kapitel desselben, weinte die Rechte der Kriegführenden und Neutralen
feststellen, dringend eine Revision, mindestens eine genauere Fassung er¬
forderten.

Jene seltsame Mischung von Theorie und Praxis, welche man das Völ¬
kerrecht nennt, ist kein Gesetzbuch von unbestrittener Geltung, dessen einzelne
Artikel nur einer sorgfältigen Deutung bedürften. Es ist im Laus von etwa
zwei Jahrhunderten ganz allmälig erwachsen, theils aus den Lehren specula-
twer Juristen, wie Grotius und Vattci. theils aus den Ansprüchen mächtiger
Kriegführender, die das thun zu dürfen begehrten, was sie mit Gewalt durch¬
zusetzen vermochten, theils aus den Einsprüchen verletzter Neutralen, die sich
dem ihnen angcsonnencn Zwang nicht unterwerfen wollten, theils aus be¬
stimmten Verträgen einzelner Staaten, die deshalb nnr locale und zeitweilige
Bedeutung hatten, theils aus Urtheilt erfahrner und geachteter Admiralitäts-
gerichtc u. a. in. Das Völkerrecht war und ist noch heute, vorzüglich in den
Paragraphen, welche sich auf die Kriegführung zur See beziehen, eine Art
si ne tuirender Kompromiß zwischen Juristenrecht und Faustrecht.
Einige seiner Grundsätze sind von allen, andere nur von einigen civilisirten
Nationen anerkannt, wieder andere sind bis auf diesen Tag von den meisten
bestritten oder verschieden angewendet worden.

Das Wachsthum der Humanität hat Vieles in den Ansprüchen der Krieg¬
führenden gegen ihre Feinde wie gegen die Neutralen gemildert. Ursprünglich
hieß Krieg führen dem Gegner, dessen Unterthanen und Besitzungen jeden mög-


Grenzboten I, 1802, 31
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[0249] England und die amerikanische Blockade. Betrachten wir die Stellung, welche die englische und die französische Po¬ litik zu dem Kampf in Amerika eingenommen hat, die Urtheile der Londoner und Pariser Presse über die Blockade der südlichen Häfen, über die Trent-Affaire, über die Verschüttung des Hafens von Charleston, über die Motive Sewards bei der Freigebung der Emissäre des Südens; hören wir auf die Gerüchte, die neben den offiziellen Versicherungen des Kaisers Napoleon, Thouvenel's und Pal- merston's in Betreff der Ereignisse in der Union und in Mexico hergehen, so scheint es, als ob der ganze Codex des internationalen Rechts, als ob wenig¬ stens die Kapitel desselben, weinte die Rechte der Kriegführenden und Neutralen feststellen, dringend eine Revision, mindestens eine genauere Fassung er¬ forderten. Jene seltsame Mischung von Theorie und Praxis, welche man das Völ¬ kerrecht nennt, ist kein Gesetzbuch von unbestrittener Geltung, dessen einzelne Artikel nur einer sorgfältigen Deutung bedürften. Es ist im Laus von etwa zwei Jahrhunderten ganz allmälig erwachsen, theils aus den Lehren specula- twer Juristen, wie Grotius und Vattci. theils aus den Ansprüchen mächtiger Kriegführender, die das thun zu dürfen begehrten, was sie mit Gewalt durch¬ zusetzen vermochten, theils aus den Einsprüchen verletzter Neutralen, die sich dem ihnen angcsonnencn Zwang nicht unterwerfen wollten, theils aus be¬ stimmten Verträgen einzelner Staaten, die deshalb nnr locale und zeitweilige Bedeutung hatten, theils aus Urtheilt erfahrner und geachteter Admiralitäts- gerichtc u. a. in. Das Völkerrecht war und ist noch heute, vorzüglich in den Paragraphen, welche sich auf die Kriegführung zur See beziehen, eine Art si ne tuirender Kompromiß zwischen Juristenrecht und Faustrecht. Einige seiner Grundsätze sind von allen, andere nur von einigen civilisirten Nationen anerkannt, wieder andere sind bis auf diesen Tag von den meisten bestritten oder verschieden angewendet worden. Das Wachsthum der Humanität hat Vieles in den Ansprüchen der Krieg¬ führenden gegen ihre Feinde wie gegen die Neutralen gemildert. Ursprünglich hieß Krieg führen dem Gegner, dessen Unterthanen und Besitzungen jeden mög- Grenzboten I, 1802, 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/249>, abgerufen am 28.04.2024.