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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Anforderungen zu erfüllen. Und daß wir jetzt auch in den Rollen berühm¬
ter Darsteller encyklopädisches, stylloscs Zusammentragen einzelner wirksamer
Momente beobachten, neben alten Erinnerungen aus der Zeit Flecks und Jff-
land's, gelehrten Rath von Goethe und Tieck, daneben Effecte des ^lieg-er"
krg.n9g.is, ja der Melodramen, und wieder Gewohnheiten der Porstadttheater,
der niedrigen Komödie und Posse; zwischen dem Allen freilich geistvolle
eigene Erfindung und dicht daneben wieder Augenblicke völlig unkünstleri¬
scher Rohheit, daß wir dergleichen an unseren Schauspielern zu ertragen
haben, das ist für uns ein charakteristisches Kennzeichen einer unruhigen Zeit,
in welcher das Schöne und Reizvolle so massenhaft aus der Fremde einströmte,
daß es die Originalität des einheimischen Schaffens der Poesie wie der
Schauspielkunst auf mehrere Jahrzehnte beeinträchtigt hat.

Aber dieser Uebelstand ist nicht unüberwindlich, und grade jetzt ist unsere
Nation in eifrigem Kampf, auch ihm abzuhelfen. Freilich nicht zunächst
auf dem Gebiet der darstellenden Kunst. Wenn sie in ihrem politischen
Leben ihre Nationalität ausgeprägt und Styl erlangt haben wird, soll auch
die Schauspielkunst ihn erhalten. -- Und zum Trost für junge Talente sei
gesagt, daß die Uebelstände moderner Bildung zwar unleugbar im Ganzen
die Blüthe der darstellenden Kunst aufhalten. daß sie aber für eine einzelne
starke und gesunde Kraft gar nicht unüberwindlich sind. Ein großer Schau¬
spieler. Freude und Stolz der Kunst, kann man immer noch werden. Frei¬
lich wird in ungünstiger Zeit dem Künstler außer dem Talent eine frische un¬
verwüstliche Kraft und ein männlicher Charakter vor Allem Noth thun.




Berliner Briefe.

Das zu Ende gehende Jahr ladet uns ein, den Blick zugleich rückwärts und
vorwärts zu lenken. Eben deshalb wurde bei den alten Römern der an der Schwelle
des neuen Jahres stehende Gott zugleich vorwärts und rückwärts schauend ge¬
bildet, weil er zu gleicher Zeit der Pförtner des Ausgangs und des Untergangs,
der Schließer des alten und der Oeffner des neuen Jahres war. Der älteste Janus
Geminus in Rom, der an der Grenze des Forums stand und den die Sage auf Numa
Pompilius zurückführte, war so ausgestellt, daß der eine Kopf gegen Osten, der
andere gegen Westen schaute; -- ein eben so einfaches wie sinnvolles Symbol
der Betrachtungen/ zu denen ein bedeutungsvoller Zeitabschnitt auffordert.


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Anforderungen zu erfüllen. Und daß wir jetzt auch in den Rollen berühm¬
ter Darsteller encyklopädisches, stylloscs Zusammentragen einzelner wirksamer
Momente beobachten, neben alten Erinnerungen aus der Zeit Flecks und Jff-
land's, gelehrten Rath von Goethe und Tieck, daneben Effecte des ^lieg-er«
krg.n9g.is, ja der Melodramen, und wieder Gewohnheiten der Porstadttheater,
der niedrigen Komödie und Posse; zwischen dem Allen freilich geistvolle
eigene Erfindung und dicht daneben wieder Augenblicke völlig unkünstleri¬
scher Rohheit, daß wir dergleichen an unseren Schauspielern zu ertragen
haben, das ist für uns ein charakteristisches Kennzeichen einer unruhigen Zeit,
in welcher das Schöne und Reizvolle so massenhaft aus der Fremde einströmte,
daß es die Originalität des einheimischen Schaffens der Poesie wie der
Schauspielkunst auf mehrere Jahrzehnte beeinträchtigt hat.

Aber dieser Uebelstand ist nicht unüberwindlich, und grade jetzt ist unsere
Nation in eifrigem Kampf, auch ihm abzuhelfen. Freilich nicht zunächst
auf dem Gebiet der darstellenden Kunst. Wenn sie in ihrem politischen
Leben ihre Nationalität ausgeprägt und Styl erlangt haben wird, soll auch
die Schauspielkunst ihn erhalten. — Und zum Trost für junge Talente sei
gesagt, daß die Uebelstände moderner Bildung zwar unleugbar im Ganzen
die Blüthe der darstellenden Kunst aufhalten. daß sie aber für eine einzelne
starke und gesunde Kraft gar nicht unüberwindlich sind. Ein großer Schau¬
spieler. Freude und Stolz der Kunst, kann man immer noch werden. Frei¬
lich wird in ungünstiger Zeit dem Künstler außer dem Talent eine frische un¬
verwüstliche Kraft und ein männlicher Charakter vor Allem Noth thun.




Berliner Briefe.

Das zu Ende gehende Jahr ladet uns ein, den Blick zugleich rückwärts und
vorwärts zu lenken. Eben deshalb wurde bei den alten Römern der an der Schwelle
des neuen Jahres stehende Gott zugleich vorwärts und rückwärts schauend ge¬
bildet, weil er zu gleicher Zeit der Pförtner des Ausgangs und des Untergangs,
der Schließer des alten und der Oeffner des neuen Jahres war. Der älteste Janus
Geminus in Rom, der an der Grenze des Forums stand und den die Sage auf Numa
Pompilius zurückführte, war so ausgestellt, daß der eine Kopf gegen Osten, der
andere gegen Westen schaute; — ein eben so einfaches wie sinnvolles Symbol
der Betrachtungen/ zu denen ein bedeutungsvoller Zeitabschnitt auffordert.


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[0083] Anforderungen zu erfüllen. Und daß wir jetzt auch in den Rollen berühm¬ ter Darsteller encyklopädisches, stylloscs Zusammentragen einzelner wirksamer Momente beobachten, neben alten Erinnerungen aus der Zeit Flecks und Jff- land's, gelehrten Rath von Goethe und Tieck, daneben Effecte des ^lieg-er« krg.n9g.is, ja der Melodramen, und wieder Gewohnheiten der Porstadttheater, der niedrigen Komödie und Posse; zwischen dem Allen freilich geistvolle eigene Erfindung und dicht daneben wieder Augenblicke völlig unkünstleri¬ scher Rohheit, daß wir dergleichen an unseren Schauspielern zu ertragen haben, das ist für uns ein charakteristisches Kennzeichen einer unruhigen Zeit, in welcher das Schöne und Reizvolle so massenhaft aus der Fremde einströmte, daß es die Originalität des einheimischen Schaffens der Poesie wie der Schauspielkunst auf mehrere Jahrzehnte beeinträchtigt hat. Aber dieser Uebelstand ist nicht unüberwindlich, und grade jetzt ist unsere Nation in eifrigem Kampf, auch ihm abzuhelfen. Freilich nicht zunächst auf dem Gebiet der darstellenden Kunst. Wenn sie in ihrem politischen Leben ihre Nationalität ausgeprägt und Styl erlangt haben wird, soll auch die Schauspielkunst ihn erhalten. — Und zum Trost für junge Talente sei gesagt, daß die Uebelstände moderner Bildung zwar unleugbar im Ganzen die Blüthe der darstellenden Kunst aufhalten. daß sie aber für eine einzelne starke und gesunde Kraft gar nicht unüberwindlich sind. Ein großer Schau¬ spieler. Freude und Stolz der Kunst, kann man immer noch werden. Frei¬ lich wird in ungünstiger Zeit dem Künstler außer dem Talent eine frische un¬ verwüstliche Kraft und ein männlicher Charakter vor Allem Noth thun. Berliner Briefe. Das zu Ende gehende Jahr ladet uns ein, den Blick zugleich rückwärts und vorwärts zu lenken. Eben deshalb wurde bei den alten Römern der an der Schwelle des neuen Jahres stehende Gott zugleich vorwärts und rückwärts schauend ge¬ bildet, weil er zu gleicher Zeit der Pförtner des Ausgangs und des Untergangs, der Schließer des alten und der Oeffner des neuen Jahres war. Der älteste Janus Geminus in Rom, der an der Grenze des Forums stand und den die Sage auf Numa Pompilius zurückführte, war so ausgestellt, daß der eine Kopf gegen Osten, der andere gegen Westen schaute; — ein eben so einfaches wie sinnvolles Symbol der Betrachtungen/ zu denen ein bedeutungsvoller Zeitabschnitt auffordert. 10*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/83>, abgerufen am 28.04.2024.