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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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Moralsystem geändert. Doch davon ein andermal; wenn Du auf obige
Bedingungen den Briefwechßcl fortsezen willst. -- Grüße meine Eltern und
I. G. Fichte. Geschwister herzlich. Ich bin Dein Dich liebender Bruder.

Meine Adreße ist bis Ende Merzes Leipzig, auf der Schloßgaße
neben dem Petrino in Brauns Hause 3. Treppen.

Demselben Bruder gilt der nächste Brief, welcher besonders darum interessant
ist, weil er außer verschiedenen schon angeregten Beziehungen auch Fichte's
Studium der Philosophie und seine Herzensverhältnissc bespricht.

Ueber die hier berührte frühere Neigung zu Charlotte Schlieben (so scheint
der Name gelesen werden zu müssen) ist sonst Nichts bekannt. Seine Gönnerin,
die "Dame aus Weimar" schwieg, nach einem Briefe vom 1. August, worin
ihr Name auch nicht genannt wird (I, 77), "seit ein paar Monaten" über ihr
"Project", ihn "an einen gewissen sehr guten Hof zu bringen". Wie sehr
aber sein Gemüth noch immer durch den Mangel eines bestimmten, festen
Wirkungskreises beunruhigt in unsteten Schwanken gehalten wurde zu einer
Zeit, wo seine Verheirathung bereits beschlossen war, wie schon im vorigen
Briefe angedeutet und in diesem deutlich ausgesagt ist, wie er auch am 7. Febr.
und noch am 1. März an seine zukünftige Gattin schreibt (I, 98 f.), das
beweist der Schluß dieses Schreibens. Sicherlich bedarf es, zumal bei einem
so auf sich selbst gestellten Charakter, wie ihn Fichte besaß, keiner Entschuldi¬
gung, sondern fordert vielmehr achtungsvolle Anerkennung, daß sein Mannes-
stolz es nicht ertragen mochte, eine andere Seele an sein unbestimmtes Schicksal
zu fesseln oder in gemächlicher Nahe sich vom Vermögen seiner Frau zu nähren.
Wohl aber ist dabei zu beachten, daß nicht jugendlich blinde Leidenschaft ihn zu der
vier Jahre älteren Braut zog, sondern die mit näherer Bekanntschaft sich steigernde
und mit verständiger Besonnenheit verbundene Werthschätzung (I, 39 ff.) Die
"gewisse Begebenheit", die er hier als nächste Veranlassung der erneuerten
Kämpfe nennt, dürfte wohl die in dem Briefe an seine Braut vom i. März
1791 (I, 99 f.)allerdings etwas dunkel beschriebene Anklage wegen Entlarvung
eines Betrügers sein.
''


^!

'.
Leipzig d. 5. Merz. i?9i.


Mein lieber Bruder,

Erst vor zwei Stunden habe ich Deinen Brief erhalten (denn entweder
Du datirst Deine Briefe falsch, oder giebst sie erst spät auf die Post). Jezt
habe ich die erste freie Stunde, und sogleich seze ich mich her, Dir zu antworten,
und wenn die paar Stunden die von jezt bis zum Abgange der Post mein
sind, zulangen, so geht noch heute mein Brief ab. Endlich habe ich einen
Brief von Dir gelesen, wie ich sie von Dir zu lesen wünsche......Male)..
Freund. Ich weiß, Bruder, daß Du mich liebst, und ich fühle immer mehr


Moralsystem geändert. Doch davon ein andermal; wenn Du auf obige
Bedingungen den Briefwechßcl fortsezen willst. — Grüße meine Eltern und
I. G. Fichte. Geschwister herzlich. Ich bin Dein Dich liebender Bruder.

Meine Adreße ist bis Ende Merzes Leipzig, auf der Schloßgaße
neben dem Petrino in Brauns Hause 3. Treppen.

Demselben Bruder gilt der nächste Brief, welcher besonders darum interessant
ist, weil er außer verschiedenen schon angeregten Beziehungen auch Fichte's
Studium der Philosophie und seine Herzensverhältnissc bespricht.

Ueber die hier berührte frühere Neigung zu Charlotte Schlieben (so scheint
der Name gelesen werden zu müssen) ist sonst Nichts bekannt. Seine Gönnerin,
die „Dame aus Weimar" schwieg, nach einem Briefe vom 1. August, worin
ihr Name auch nicht genannt wird (I, 77), „seit ein paar Monaten" über ihr
„Project", ihn „an einen gewissen sehr guten Hof zu bringen". Wie sehr
aber sein Gemüth noch immer durch den Mangel eines bestimmten, festen
Wirkungskreises beunruhigt in unsteten Schwanken gehalten wurde zu einer
Zeit, wo seine Verheirathung bereits beschlossen war, wie schon im vorigen
Briefe angedeutet und in diesem deutlich ausgesagt ist, wie er auch am 7. Febr.
und noch am 1. März an seine zukünftige Gattin schreibt (I, 98 f.), das
beweist der Schluß dieses Schreibens. Sicherlich bedarf es, zumal bei einem
so auf sich selbst gestellten Charakter, wie ihn Fichte besaß, keiner Entschuldi¬
gung, sondern fordert vielmehr achtungsvolle Anerkennung, daß sein Mannes-
stolz es nicht ertragen mochte, eine andere Seele an sein unbestimmtes Schicksal
zu fesseln oder in gemächlicher Nahe sich vom Vermögen seiner Frau zu nähren.
Wohl aber ist dabei zu beachten, daß nicht jugendlich blinde Leidenschaft ihn zu der
vier Jahre älteren Braut zog, sondern die mit näherer Bekanntschaft sich steigernde
und mit verständiger Besonnenheit verbundene Werthschätzung (I, 39 ff.) Die
„gewisse Begebenheit", die er hier als nächste Veranlassung der erneuerten
Kämpfe nennt, dürfte wohl die in dem Briefe an seine Braut vom i. März
1791 (I, 99 f.)allerdings etwas dunkel beschriebene Anklage wegen Entlarvung
eines Betrügers sein.
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Leipzig d. 5. Merz. i?9i.


Mein lieber Bruder,

Erst vor zwei Stunden habe ich Deinen Brief erhalten (denn entweder
Du datirst Deine Briefe falsch, oder giebst sie erst spät auf die Post). Jezt
habe ich die erste freie Stunde, und sogleich seze ich mich her, Dir zu antworten,
und wenn die paar Stunden die von jezt bis zum Abgange der Post mein
sind, zulangen, so geht noch heute mein Brief ab. Endlich habe ich einen
Brief von Dir gelesen, wie ich sie von Dir zu lesen wünsche......Male)..
Freund. Ich weiß, Bruder, daß Du mich liebst, und ich fühle immer mehr


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[0100] Moralsystem geändert. Doch davon ein andermal; wenn Du auf obige Bedingungen den Briefwechßcl fortsezen willst. — Grüße meine Eltern und I. G. Fichte. Geschwister herzlich. Ich bin Dein Dich liebender Bruder. Meine Adreße ist bis Ende Merzes Leipzig, auf der Schloßgaße neben dem Petrino in Brauns Hause 3. Treppen. Demselben Bruder gilt der nächste Brief, welcher besonders darum interessant ist, weil er außer verschiedenen schon angeregten Beziehungen auch Fichte's Studium der Philosophie und seine Herzensverhältnissc bespricht. Ueber die hier berührte frühere Neigung zu Charlotte Schlieben (so scheint der Name gelesen werden zu müssen) ist sonst Nichts bekannt. Seine Gönnerin, die „Dame aus Weimar" schwieg, nach einem Briefe vom 1. August, worin ihr Name auch nicht genannt wird (I, 77), „seit ein paar Monaten" über ihr „Project", ihn „an einen gewissen sehr guten Hof zu bringen". Wie sehr aber sein Gemüth noch immer durch den Mangel eines bestimmten, festen Wirkungskreises beunruhigt in unsteten Schwanken gehalten wurde zu einer Zeit, wo seine Verheirathung bereits beschlossen war, wie schon im vorigen Briefe angedeutet und in diesem deutlich ausgesagt ist, wie er auch am 7. Febr. und noch am 1. März an seine zukünftige Gattin schreibt (I, 98 f.), das beweist der Schluß dieses Schreibens. Sicherlich bedarf es, zumal bei einem so auf sich selbst gestellten Charakter, wie ihn Fichte besaß, keiner Entschuldi¬ gung, sondern fordert vielmehr achtungsvolle Anerkennung, daß sein Mannes- stolz es nicht ertragen mochte, eine andere Seele an sein unbestimmtes Schicksal zu fesseln oder in gemächlicher Nahe sich vom Vermögen seiner Frau zu nähren. Wohl aber ist dabei zu beachten, daß nicht jugendlich blinde Leidenschaft ihn zu der vier Jahre älteren Braut zog, sondern die mit näherer Bekanntschaft sich steigernde und mit verständiger Besonnenheit verbundene Werthschätzung (I, 39 ff.) Die „gewisse Begebenheit", die er hier als nächste Veranlassung der erneuerten Kämpfe nennt, dürfte wohl die in dem Briefe an seine Braut vom i. März 1791 (I, 99 f.)allerdings etwas dunkel beschriebene Anklage wegen Entlarvung eines Betrügers sein. '' ^! '. Leipzig d. 5. Merz. i?9i. Mein lieber Bruder, Erst vor zwei Stunden habe ich Deinen Brief erhalten (denn entweder Du datirst Deine Briefe falsch, oder giebst sie erst spät auf die Post). Jezt habe ich die erste freie Stunde, und sogleich seze ich mich her, Dir zu antworten, und wenn die paar Stunden die von jezt bis zum Abgange der Post mein sind, zulangen, so geht noch heute mein Brief ab. Endlich habe ich einen Brief von Dir gelesen, wie ich sie von Dir zu lesen wünsche......Male).. Freund. Ich weiß, Bruder, daß Du mich liebst, und ich fühle immer mehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/100>, abgerufen am 05.05.2024.