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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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Das Verhältniß der Sage zur Geschichte.

Der Leser wolle sich in die Lage eines Geschichtschreibers versetzen,
welcher unternimmt eine Geschichte des siebenjährigen Krieges, also einer kaum
hundert Jahre oder drei Geschlechter von uns' entfernten Reihe von Begeben¬
heiten, nach den in dem deutschen Volke erhaltenen mündlichen Ueberlieferungen
zu schreiben, und welcher zu dem Ende ganz Deutschland bereist.

Wir glauben nicht zu irren, wenn wir annehmen, daß er in allen Gegen¬
den und Familien, welche nicht unmittelbar von jenen Ereignissen berührt
wurden, das Bewußtsein dieses Krieges gänzlich erloschen finden wird, insofern
es nicht durch wissenschaftliche Belehrung frisch erhalten worden. In der Um¬
gegend der Hauptschlachtfelder dürfte er die allgemeine Erinnerung an das dort
vorgefallene kriegerische Ereignis; wohl noch erhalten finden, aber unter den
Umwohnern schwerlich Jemand auftreiben können, welcher ihm aus der münd¬
lichen, Ueberlieferung einen klaren Bericht über den Hergang zu geben im
Stande wäre, und fast ebenso unwahrscheinlich dünkt es uns, daß er aus dieser
Quelle irgend eine Angabe über das Jahr erhalten könne, in welchem die
Schlacht vorgefallen ist, wenn dabei die auf etwaige schriftliche Anmerkung
desselben in dein Kirchenbuch oder der Hausbibel gestützte Kenntniß aus¬
geschlossen wird.

Ist er nun auch so glücklich gewesen, auf allen Schlachtfeldern die Erinne¬
rung an die vorgefallene Schlacht und den einen oder andern Zug derselben
erhalten zu finden, ist er selbst hier und da auf den Enkel eines Soldaten aus
dem siebenjährigen Kriege gestoßen, welcher ihm über das, was in seiner Er¬
innerung von den Erzählungen seines Groß- oder Urgroßvaters aus dieser Zeit
haften blieb, Mittheilungen macht, so wird er doch bei dem Versuche, die ge¬
sammelten Angaben nach ihrem zeitlichen Zusammenhange zu einer klaren Ueber¬
sicht des Verlaufes dieses Krieges zu ordnen, wegen des Mangels oder der
Unsicherheit der Zeitangaben auf unübersteigliche Hindernisse stoßen und dadurch
zu dem Ergebnisse kommen, daß trotz der hohen allgemeinen Schulbildung
des deutschen Volkes dessen reines' geschichtliches Erinnerungsvermögen nicht
stark genug ist, um als Quelle für die geschichtliche Darstellung einer von seinen
Großvätern und Urgroßvätern erlebten Zeit benutzt werden zu können, obgleich
sie die Gemüther damals gewaltig ergriffen hatte.

Gehen wir nun noch einen Schritt weiter zurück, und nehmen wir an, daß in
einer gebildeten und reichen deutschen Familie im Jahre 1618, also am An-


Das Verhältniß der Sage zur Geschichte.

Der Leser wolle sich in die Lage eines Geschichtschreibers versetzen,
welcher unternimmt eine Geschichte des siebenjährigen Krieges, also einer kaum
hundert Jahre oder drei Geschlechter von uns' entfernten Reihe von Begeben¬
heiten, nach den in dem deutschen Volke erhaltenen mündlichen Ueberlieferungen
zu schreiben, und welcher zu dem Ende ganz Deutschland bereist.

Wir glauben nicht zu irren, wenn wir annehmen, daß er in allen Gegen¬
den und Familien, welche nicht unmittelbar von jenen Ereignissen berührt
wurden, das Bewußtsein dieses Krieges gänzlich erloschen finden wird, insofern
es nicht durch wissenschaftliche Belehrung frisch erhalten worden. In der Um¬
gegend der Hauptschlachtfelder dürfte er die allgemeine Erinnerung an das dort
vorgefallene kriegerische Ereignis; wohl noch erhalten finden, aber unter den
Umwohnern schwerlich Jemand auftreiben können, welcher ihm aus der münd¬
lichen, Ueberlieferung einen klaren Bericht über den Hergang zu geben im
Stande wäre, und fast ebenso unwahrscheinlich dünkt es uns, daß er aus dieser
Quelle irgend eine Angabe über das Jahr erhalten könne, in welchem die
Schlacht vorgefallen ist, wenn dabei die auf etwaige schriftliche Anmerkung
desselben in dein Kirchenbuch oder der Hausbibel gestützte Kenntniß aus¬
geschlossen wird.

Ist er nun auch so glücklich gewesen, auf allen Schlachtfeldern die Erinne¬
rung an die vorgefallene Schlacht und den einen oder andern Zug derselben
erhalten zu finden, ist er selbst hier und da auf den Enkel eines Soldaten aus
dem siebenjährigen Kriege gestoßen, welcher ihm über das, was in seiner Er¬
innerung von den Erzählungen seines Groß- oder Urgroßvaters aus dieser Zeit
haften blieb, Mittheilungen macht, so wird er doch bei dem Versuche, die ge¬
sammelten Angaben nach ihrem zeitlichen Zusammenhange zu einer klaren Ueber¬
sicht des Verlaufes dieses Krieges zu ordnen, wegen des Mangels oder der
Unsicherheit der Zeitangaben auf unübersteigliche Hindernisse stoßen und dadurch
zu dem Ergebnisse kommen, daß trotz der hohen allgemeinen Schulbildung
des deutschen Volkes dessen reines' geschichtliches Erinnerungsvermögen nicht
stark genug ist, um als Quelle für die geschichtliche Darstellung einer von seinen
Großvätern und Urgroßvätern erlebten Zeit benutzt werden zu können, obgleich
sie die Gemüther damals gewaltig ergriffen hatte.

Gehen wir nun noch einen Schritt weiter zurück, und nehmen wir an, daß in
einer gebildeten und reichen deutschen Familie im Jahre 1618, also am An-


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[0102] Das Verhältniß der Sage zur Geschichte. Der Leser wolle sich in die Lage eines Geschichtschreibers versetzen, welcher unternimmt eine Geschichte des siebenjährigen Krieges, also einer kaum hundert Jahre oder drei Geschlechter von uns' entfernten Reihe von Begeben¬ heiten, nach den in dem deutschen Volke erhaltenen mündlichen Ueberlieferungen zu schreiben, und welcher zu dem Ende ganz Deutschland bereist. Wir glauben nicht zu irren, wenn wir annehmen, daß er in allen Gegen¬ den und Familien, welche nicht unmittelbar von jenen Ereignissen berührt wurden, das Bewußtsein dieses Krieges gänzlich erloschen finden wird, insofern es nicht durch wissenschaftliche Belehrung frisch erhalten worden. In der Um¬ gegend der Hauptschlachtfelder dürfte er die allgemeine Erinnerung an das dort vorgefallene kriegerische Ereignis; wohl noch erhalten finden, aber unter den Umwohnern schwerlich Jemand auftreiben können, welcher ihm aus der münd¬ lichen, Ueberlieferung einen klaren Bericht über den Hergang zu geben im Stande wäre, und fast ebenso unwahrscheinlich dünkt es uns, daß er aus dieser Quelle irgend eine Angabe über das Jahr erhalten könne, in welchem die Schlacht vorgefallen ist, wenn dabei die auf etwaige schriftliche Anmerkung desselben in dein Kirchenbuch oder der Hausbibel gestützte Kenntniß aus¬ geschlossen wird. Ist er nun auch so glücklich gewesen, auf allen Schlachtfeldern die Erinne¬ rung an die vorgefallene Schlacht und den einen oder andern Zug derselben erhalten zu finden, ist er selbst hier und da auf den Enkel eines Soldaten aus dem siebenjährigen Kriege gestoßen, welcher ihm über das, was in seiner Er¬ innerung von den Erzählungen seines Groß- oder Urgroßvaters aus dieser Zeit haften blieb, Mittheilungen macht, so wird er doch bei dem Versuche, die ge¬ sammelten Angaben nach ihrem zeitlichen Zusammenhange zu einer klaren Ueber¬ sicht des Verlaufes dieses Krieges zu ordnen, wegen des Mangels oder der Unsicherheit der Zeitangaben auf unübersteigliche Hindernisse stoßen und dadurch zu dem Ergebnisse kommen, daß trotz der hohen allgemeinen Schulbildung des deutschen Volkes dessen reines' geschichtliches Erinnerungsvermögen nicht stark genug ist, um als Quelle für die geschichtliche Darstellung einer von seinen Großvätern und Urgroßvätern erlebten Zeit benutzt werden zu können, obgleich sie die Gemüther damals gewaltig ergriffen hatte. Gehen wir nun noch einen Schritt weiter zurück, und nehmen wir an, daß in einer gebildeten und reichen deutschen Familie im Jahre 1618, also am An-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/102>, abgerufen am 28.04.2024.