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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Lord Byron.

(Lord Byron. Eine Biographie. Von Prof. F. Eberty. Leipzig. S. Hirzel).

Selten hat Lessing ein so kühnes geistvolles Wort gesprochen wie jenen
berühmten Satz, der Historiker könne im Grunde nur die Geschichte seiner Zeit
erzählen. Und doch wird dieser Ausspruch vor der Beschränktheit des mensch¬
lichen Sinnes immer wieder zu Schanden werden. Wer eine kaum erst abge¬
schlossene Vergangenheit schildert, steht entweder selber noch mitten in ihren
Kämpfen, dann ermangelt sein Blick der Freiheit. Oder er hat ihre Ideale
innerlich überwunden; dann ist er zumeist noch weniger unparteiisch, dann wird
er ihre Verirrungen mit jener schonungsloser Schärfe richten, welche das Be¬
wußtsein eigner Schuld hervorruft. Diese zwiefache Befangenheit beobachten
wir noch immer an den landläufigen Urtheilen über den glänzendsten Vertreter
der jüngsten Literaturepoche, Lord Byron. Seine Landsleute, (bis auf eine
kleine Schaar blinder Verehrer) geberden sich, wenn sie von ihm reden, un¬
willkürlich als leidenschaftliche Vertheidiger ihrer vaterländischen Sitte, die By¬
ron rücksichtslos bekriegte, und wir denken nicht daran, sie deshalb zu tadeln.
Gewiß, käme je die Zeit, da man in England sich harmlos an der Schönheit
des Don Juan erfreute oder dem Größten aller Beherrscher des Landes, dem
Protector^ das gebührende Denkmal errichtete: so würden die Briten an un¬
befangen menschlicher Bildung gewonnen und einige jener nationalen Vormtheile
abgestreift haben, die den Fremden verletzen. Aber vermuthlich würden mit
solchen Vorurtheilen auch mehre der Tugenden verloren gehen, denen England
seine Größe dankt, vornehmlich jene großartige Einseitigkeit, die unbeirrt und
sicher geradeaus zum Ziele schreitet und die Willkür des Einzelnen durch die
Macht fester alterprobter Ueberlieferungen in Staat und Sitte bändigt.

Diesen häuslichen Händeln der Fremden tonnen wir Deutschen freilich
gleichmüthig zuschauen, doch ein ruhiges Urtheil über Byron fällt auch uns
sehr schwer. Seine Dichtung hat ungleich tiefer auf uns gewirkt als auf seine
Heimath, seine blendende Erscheinung ist eine lange Zeit das helle Traumbild
unsrer Jugend gewesen, und nicht gar fern sind die Tage, da alle Kreise unsrer


Gr-nzboten III. 1863. 1
Lord Byron.

(Lord Byron. Eine Biographie. Von Prof. F. Eberty. Leipzig. S. Hirzel).

Selten hat Lessing ein so kühnes geistvolles Wort gesprochen wie jenen
berühmten Satz, der Historiker könne im Grunde nur die Geschichte seiner Zeit
erzählen. Und doch wird dieser Ausspruch vor der Beschränktheit des mensch¬
lichen Sinnes immer wieder zu Schanden werden. Wer eine kaum erst abge¬
schlossene Vergangenheit schildert, steht entweder selber noch mitten in ihren
Kämpfen, dann ermangelt sein Blick der Freiheit. Oder er hat ihre Ideale
innerlich überwunden; dann ist er zumeist noch weniger unparteiisch, dann wird
er ihre Verirrungen mit jener schonungsloser Schärfe richten, welche das Be¬
wußtsein eigner Schuld hervorruft. Diese zwiefache Befangenheit beobachten
wir noch immer an den landläufigen Urtheilen über den glänzendsten Vertreter
der jüngsten Literaturepoche, Lord Byron. Seine Landsleute, (bis auf eine
kleine Schaar blinder Verehrer) geberden sich, wenn sie von ihm reden, un¬
willkürlich als leidenschaftliche Vertheidiger ihrer vaterländischen Sitte, die By¬
ron rücksichtslos bekriegte, und wir denken nicht daran, sie deshalb zu tadeln.
Gewiß, käme je die Zeit, da man in England sich harmlos an der Schönheit
des Don Juan erfreute oder dem Größten aller Beherrscher des Landes, dem
Protector^ das gebührende Denkmal errichtete: so würden die Briten an un¬
befangen menschlicher Bildung gewonnen und einige jener nationalen Vormtheile
abgestreift haben, die den Fremden verletzen. Aber vermuthlich würden mit
solchen Vorurtheilen auch mehre der Tugenden verloren gehen, denen England
seine Größe dankt, vornehmlich jene großartige Einseitigkeit, die unbeirrt und
sicher geradeaus zum Ziele schreitet und die Willkür des Einzelnen durch die
Macht fester alterprobter Ueberlieferungen in Staat und Sitte bändigt.

Diesen häuslichen Händeln der Fremden tonnen wir Deutschen freilich
gleichmüthig zuschauen, doch ein ruhiges Urtheil über Byron fällt auch uns
sehr schwer. Seine Dichtung hat ungleich tiefer auf uns gewirkt als auf seine
Heimath, seine blendende Erscheinung ist eine lange Zeit das helle Traumbild
unsrer Jugend gewesen, und nicht gar fern sind die Tage, da alle Kreise unsrer


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[0009] Lord Byron. (Lord Byron. Eine Biographie. Von Prof. F. Eberty. Leipzig. S. Hirzel). Selten hat Lessing ein so kühnes geistvolles Wort gesprochen wie jenen berühmten Satz, der Historiker könne im Grunde nur die Geschichte seiner Zeit erzählen. Und doch wird dieser Ausspruch vor der Beschränktheit des mensch¬ lichen Sinnes immer wieder zu Schanden werden. Wer eine kaum erst abge¬ schlossene Vergangenheit schildert, steht entweder selber noch mitten in ihren Kämpfen, dann ermangelt sein Blick der Freiheit. Oder er hat ihre Ideale innerlich überwunden; dann ist er zumeist noch weniger unparteiisch, dann wird er ihre Verirrungen mit jener schonungsloser Schärfe richten, welche das Be¬ wußtsein eigner Schuld hervorruft. Diese zwiefache Befangenheit beobachten wir noch immer an den landläufigen Urtheilen über den glänzendsten Vertreter der jüngsten Literaturepoche, Lord Byron. Seine Landsleute, (bis auf eine kleine Schaar blinder Verehrer) geberden sich, wenn sie von ihm reden, un¬ willkürlich als leidenschaftliche Vertheidiger ihrer vaterländischen Sitte, die By¬ ron rücksichtslos bekriegte, und wir denken nicht daran, sie deshalb zu tadeln. Gewiß, käme je die Zeit, da man in England sich harmlos an der Schönheit des Don Juan erfreute oder dem Größten aller Beherrscher des Landes, dem Protector^ das gebührende Denkmal errichtete: so würden die Briten an un¬ befangen menschlicher Bildung gewonnen und einige jener nationalen Vormtheile abgestreift haben, die den Fremden verletzen. Aber vermuthlich würden mit solchen Vorurtheilen auch mehre der Tugenden verloren gehen, denen England seine Größe dankt, vornehmlich jene großartige Einseitigkeit, die unbeirrt und sicher geradeaus zum Ziele schreitet und die Willkür des Einzelnen durch die Macht fester alterprobter Ueberlieferungen in Staat und Sitte bändigt. Diesen häuslichen Händeln der Fremden tonnen wir Deutschen freilich gleichmüthig zuschauen, doch ein ruhiges Urtheil über Byron fällt auch uns sehr schwer. Seine Dichtung hat ungleich tiefer auf uns gewirkt als auf seine Heimath, seine blendende Erscheinung ist eine lange Zeit das helle Traumbild unsrer Jugend gewesen, und nicht gar fern sind die Tage, da alle Kreise unsrer Gr-nzboten III. 1863. 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/9>, abgerufen am 29.04.2024.