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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Der Mythus der Niobe.

Niobe und die Nivbidcn in ihrer literarischen, künstlerischen und mythologischen Be¬
deutung von Dr. K. E. Stark, Leipzig, Engelmann, 1863.

"Der Ursprung des Mythus ist ein idealer", so ohngefähr heißt es in der
Einleitung, "er niht im Gemüthe des Volkes, in der religiösen Hingabe an
eine in der Naturerscheinung "der im Menschenleben sich offenbarende göttliche
Potenz. So wird es immer ein Doppeltes sein, das wir aufzusuchen haben:
die eigenthümlich religiöse Stimmung und das einfache Bild eines Natur-
Vorganges. In diesem Doppelten liegt es zugleich ausgesprochen, daß der
Mythus zunächst in Cultus und Symbol seine Wurzeln hat."

Auf wunderbare Weise zeigt sich dieser Vorgang in der ältesten der grie¬
chischen Mythen, um die es sich hier handelt, der Niobesage. Der durch das
ganze hellenische Alterthum gehende eindringliche Zug, gegenüber der gött¬
lichen Macht an die menschliche Abhängigkeit zu mahnen, ist in ihr zur tief
poetischen, lebendig fruchtbaren Kunstidee geworden, welche, einer stets erneuten
Entwickelung fähig, das liebevoll gepflegte Eigenthum des griechischen Volkes
gewesen ist.

Im Homer schon erinnert Achill den trauernden Pricunos an das Schicksal
der Niobe, "der daheim im elterlichen Hause sechs Töchter und sechs blühende
Söhne dahingestorben sind." Der alte Hesiod, die späteren Lyriker bis auf
Pindar und Sappho haben sich den fruchtbaren Stoff nicht entgehen lassen.
Eines der gewaltigsten, durch Einfachheit der Anlage und Macht des Aus¬
druckes erschütterndsten Dramen soll die Niobe des Aeschylus gewesen sein. Der
alte Tragödiendichter zeigt die Heldin auf dem Grabe ihrer Kinder sitzend, ver¬
hüllten Hauptes, in starren Schmerz versenkt, während die Neigen der Chor-
licdcr an ihr vorüberrauschen. Sophokles, von dessen Niobidentragödie uur
unbedeutende Reste erhalten sind, versetzte seine Niobe aus den Boden von
Theben und zwar wählte er den Augenblick, wo das Verhängnis) die Söhne
und Töchter vor den Augen der Mutter ereilt. Ueber die zarten Verhältnisse
schwärmerischer Jugendneigung im Kreise fürsorglicher Wärterinnen erhebt sich
die tragische Gestalt der "Alldulderin" in göttlicher Hoheit. Die dithyrambische
Dichtung benutzte das Schicksal der Niobe^ "ihr stolzes Reden und ihr Schweigen
im Leid", zu Gesängen und Tänzen des feierlichen Chvrreigens und der hoch-
tragische Charakter des Mythus mühte auch in der Parodie seinen Gegensatz
finden. Die alexandrinischen Dichter nicht minder als die römischen spannen
den Faden fort, bis Ovid einen gewissen Abschluß herbeiführte durch seine voll-


13*
Der Mythus der Niobe.

Niobe und die Nivbidcn in ihrer literarischen, künstlerischen und mythologischen Be¬
deutung von Dr. K. E. Stark, Leipzig, Engelmann, 1863.

„Der Ursprung des Mythus ist ein idealer", so ohngefähr heißt es in der
Einleitung, „er niht im Gemüthe des Volkes, in der religiösen Hingabe an
eine in der Naturerscheinung »der im Menschenleben sich offenbarende göttliche
Potenz. So wird es immer ein Doppeltes sein, das wir aufzusuchen haben:
die eigenthümlich religiöse Stimmung und das einfache Bild eines Natur-
Vorganges. In diesem Doppelten liegt es zugleich ausgesprochen, daß der
Mythus zunächst in Cultus und Symbol seine Wurzeln hat."

Auf wunderbare Weise zeigt sich dieser Vorgang in der ältesten der grie¬
chischen Mythen, um die es sich hier handelt, der Niobesage. Der durch das
ganze hellenische Alterthum gehende eindringliche Zug, gegenüber der gött¬
lichen Macht an die menschliche Abhängigkeit zu mahnen, ist in ihr zur tief
poetischen, lebendig fruchtbaren Kunstidee geworden, welche, einer stets erneuten
Entwickelung fähig, das liebevoll gepflegte Eigenthum des griechischen Volkes
gewesen ist.

Im Homer schon erinnert Achill den trauernden Pricunos an das Schicksal
der Niobe, „der daheim im elterlichen Hause sechs Töchter und sechs blühende
Söhne dahingestorben sind." Der alte Hesiod, die späteren Lyriker bis auf
Pindar und Sappho haben sich den fruchtbaren Stoff nicht entgehen lassen.
Eines der gewaltigsten, durch Einfachheit der Anlage und Macht des Aus¬
druckes erschütterndsten Dramen soll die Niobe des Aeschylus gewesen sein. Der
alte Tragödiendichter zeigt die Heldin auf dem Grabe ihrer Kinder sitzend, ver¬
hüllten Hauptes, in starren Schmerz versenkt, während die Neigen der Chor-
licdcr an ihr vorüberrauschen. Sophokles, von dessen Niobidentragödie uur
unbedeutende Reste erhalten sind, versetzte seine Niobe aus den Boden von
Theben und zwar wählte er den Augenblick, wo das Verhängnis) die Söhne
und Töchter vor den Augen der Mutter ereilt. Ueber die zarten Verhältnisse
schwärmerischer Jugendneigung im Kreise fürsorglicher Wärterinnen erhebt sich
die tragische Gestalt der „Alldulderin" in göttlicher Hoheit. Die dithyrambische
Dichtung benutzte das Schicksal der Niobe^ „ihr stolzes Reden und ihr Schweigen
im Leid", zu Gesängen und Tänzen des feierlichen Chvrreigens und der hoch-
tragische Charakter des Mythus mühte auch in der Parodie seinen Gegensatz
finden. Die alexandrinischen Dichter nicht minder als die römischen spannen
den Faden fort, bis Ovid einen gewissen Abschluß herbeiführte durch seine voll-


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[0107] Der Mythus der Niobe. Niobe und die Nivbidcn in ihrer literarischen, künstlerischen und mythologischen Be¬ deutung von Dr. K. E. Stark, Leipzig, Engelmann, 1863. „Der Ursprung des Mythus ist ein idealer", so ohngefähr heißt es in der Einleitung, „er niht im Gemüthe des Volkes, in der religiösen Hingabe an eine in der Naturerscheinung »der im Menschenleben sich offenbarende göttliche Potenz. So wird es immer ein Doppeltes sein, das wir aufzusuchen haben: die eigenthümlich religiöse Stimmung und das einfache Bild eines Natur- Vorganges. In diesem Doppelten liegt es zugleich ausgesprochen, daß der Mythus zunächst in Cultus und Symbol seine Wurzeln hat." Auf wunderbare Weise zeigt sich dieser Vorgang in der ältesten der grie¬ chischen Mythen, um die es sich hier handelt, der Niobesage. Der durch das ganze hellenische Alterthum gehende eindringliche Zug, gegenüber der gött¬ lichen Macht an die menschliche Abhängigkeit zu mahnen, ist in ihr zur tief poetischen, lebendig fruchtbaren Kunstidee geworden, welche, einer stets erneuten Entwickelung fähig, das liebevoll gepflegte Eigenthum des griechischen Volkes gewesen ist. Im Homer schon erinnert Achill den trauernden Pricunos an das Schicksal der Niobe, „der daheim im elterlichen Hause sechs Töchter und sechs blühende Söhne dahingestorben sind." Der alte Hesiod, die späteren Lyriker bis auf Pindar und Sappho haben sich den fruchtbaren Stoff nicht entgehen lassen. Eines der gewaltigsten, durch Einfachheit der Anlage und Macht des Aus¬ druckes erschütterndsten Dramen soll die Niobe des Aeschylus gewesen sein. Der alte Tragödiendichter zeigt die Heldin auf dem Grabe ihrer Kinder sitzend, ver¬ hüllten Hauptes, in starren Schmerz versenkt, während die Neigen der Chor- licdcr an ihr vorüberrauschen. Sophokles, von dessen Niobidentragödie uur unbedeutende Reste erhalten sind, versetzte seine Niobe aus den Boden von Theben und zwar wählte er den Augenblick, wo das Verhängnis) die Söhne und Töchter vor den Augen der Mutter ereilt. Ueber die zarten Verhältnisse schwärmerischer Jugendneigung im Kreise fürsorglicher Wärterinnen erhebt sich die tragische Gestalt der „Alldulderin" in göttlicher Hoheit. Die dithyrambische Dichtung benutzte das Schicksal der Niobe^ „ihr stolzes Reden und ihr Schweigen im Leid", zu Gesängen und Tänzen des feierlichen Chvrreigens und der hoch- tragische Charakter des Mythus mühte auch in der Parodie seinen Gegensatz finden. Die alexandrinischen Dichter nicht minder als die römischen spannen den Faden fort, bis Ovid einen gewissen Abschluß herbeiführte durch seine voll- 13*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/107>, abgerufen am 06.05.2024.