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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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ständige Erzählung von der phrygischen Königstochter, der kinderreichen Gemahlin
des Amphion, die, durch den Fernhintrcffer Apollen und die pfeilfrohc Artemis
um ihres stolzen Rühmens willen zur Kinderlosen gemacht, an dem heimathlichen
Felsen des Sipylos zu Stein erstarrt, in endlos rinnenden Thränenbächen ihren
Verlust beweint.

Wie in der langen Periode des Steigens und des Verfalls griechischer
Dichtung durch so viele Bearbeitungen, nicht minder durch örtliche und ge¬
schichtliche Einflüsse, der ursprüngliche Kern des Mythus sich mit neuen Ideen
erweitert und umkleidet hat, darüber mag der wißbegierige Leser sich in dem
ersten Abschnitt des Buches vollständig unterrichten. Der Zweck dieser Zeilen
kann bei dem Umfang und Jnhaltsreichthum dieses Werkes kein anderer sein,
als eine übersichtliche Erwähnung der darin behandelten Gegenstände nach ihrem
Zusammenhang und ihrer Reihenfolge im Interesse des größeren Publicums.
Wir wenden uns zu dem zweiten Abschnitt, welchem als Schmuck und Erläu¬
terung eine Reihe von Abbildungen beigegeben ist, Wohl geeignet, den Verlauf
einer großen Kunstperiode sich zu vergegenwärtigen.

Der Verfasser beginnt seine archäologischen Untersuchungen mit dem wunder¬
baren, auf der kleinasiatischen Küste anderthalb Stunden vor Magnesia in dem
Sipyiosgcbirge befindlichen Felsgebilde, welches, nahe gesehen, eine durchrissene,
von Quellen überströmte Felswand, aus der Ferne aber in deutlichen Umrissen
eine in Trauer versenkte sitzende Frauengestalt zeigt, von rinnenden Wasser-
güssen überrieselt. Dieses Bild als wirkliche Niobe und zugleich als eines der
ältesten Werke griechischen Geistes und griechischer Auffassung festzustellen, wenn¬
gleich unter dem Einfluß assyrischer Kunstübung entstanden, geht der Verfasser,
wie dies überhaupt der Charakter des Buches ist, an einer ununterbrochenen
Kette von Beweisgründen localer geschichtlicher und künstlerischer Natur vor¬
sichtig von einer Schlußfolge zur andern.

Auf den attischen Boden übertragen, ward der Niobemythus alsbald, nicht
durch die Hand, aber durch die Erfindung des Phidias zum Schmuck an dem
Thronsessel des olympischen Zeus verwendet. In Athen selbst befand sich am
Südostabhang der Akropolis, oberhalb des Dionysostheatcrs in einer Grotte
eine Niobidendarstcllung, deren Pausanias mit genauer örtlicher Bezeichnung
Erwähnung thut und deren Stiftung durch neuere Forschungen an den Namen
des Thrasyllos geknüpft wird. Es sind dies leider verlorene Schätze, so wie
auch jene berühmten Reliefs von Gold und Elfenbein, die seit der Zeit des
Augustus die Thüren des Tempels des Apollo Palatinus schmückten und welche
ursprünglich aus Asien, wahrscheinlich aus Kyme stammten.

Für eine möglichst unbefangene und objective Behandlung der noch jetzt
vorhandenen, in den Niovekreiö gehörigen Kunstdenkmäler aber wählt der Ver¬
fasser den Weg in aufsteigender Linie, "von den Zeichnungen und Malereien


ständige Erzählung von der phrygischen Königstochter, der kinderreichen Gemahlin
des Amphion, die, durch den Fernhintrcffer Apollen und die pfeilfrohc Artemis
um ihres stolzen Rühmens willen zur Kinderlosen gemacht, an dem heimathlichen
Felsen des Sipylos zu Stein erstarrt, in endlos rinnenden Thränenbächen ihren
Verlust beweint.

Wie in der langen Periode des Steigens und des Verfalls griechischer
Dichtung durch so viele Bearbeitungen, nicht minder durch örtliche und ge¬
schichtliche Einflüsse, der ursprüngliche Kern des Mythus sich mit neuen Ideen
erweitert und umkleidet hat, darüber mag der wißbegierige Leser sich in dem
ersten Abschnitt des Buches vollständig unterrichten. Der Zweck dieser Zeilen
kann bei dem Umfang und Jnhaltsreichthum dieses Werkes kein anderer sein,
als eine übersichtliche Erwähnung der darin behandelten Gegenstände nach ihrem
Zusammenhang und ihrer Reihenfolge im Interesse des größeren Publicums.
Wir wenden uns zu dem zweiten Abschnitt, welchem als Schmuck und Erläu¬
terung eine Reihe von Abbildungen beigegeben ist, Wohl geeignet, den Verlauf
einer großen Kunstperiode sich zu vergegenwärtigen.

Der Verfasser beginnt seine archäologischen Untersuchungen mit dem wunder¬
baren, auf der kleinasiatischen Küste anderthalb Stunden vor Magnesia in dem
Sipyiosgcbirge befindlichen Felsgebilde, welches, nahe gesehen, eine durchrissene,
von Quellen überströmte Felswand, aus der Ferne aber in deutlichen Umrissen
eine in Trauer versenkte sitzende Frauengestalt zeigt, von rinnenden Wasser-
güssen überrieselt. Dieses Bild als wirkliche Niobe und zugleich als eines der
ältesten Werke griechischen Geistes und griechischer Auffassung festzustellen, wenn¬
gleich unter dem Einfluß assyrischer Kunstübung entstanden, geht der Verfasser,
wie dies überhaupt der Charakter des Buches ist, an einer ununterbrochenen
Kette von Beweisgründen localer geschichtlicher und künstlerischer Natur vor¬
sichtig von einer Schlußfolge zur andern.

Auf den attischen Boden übertragen, ward der Niobemythus alsbald, nicht
durch die Hand, aber durch die Erfindung des Phidias zum Schmuck an dem
Thronsessel des olympischen Zeus verwendet. In Athen selbst befand sich am
Südostabhang der Akropolis, oberhalb des Dionysostheatcrs in einer Grotte
eine Niobidendarstcllung, deren Pausanias mit genauer örtlicher Bezeichnung
Erwähnung thut und deren Stiftung durch neuere Forschungen an den Namen
des Thrasyllos geknüpft wird. Es sind dies leider verlorene Schätze, so wie
auch jene berühmten Reliefs von Gold und Elfenbein, die seit der Zeit des
Augustus die Thüren des Tempels des Apollo Palatinus schmückten und welche
ursprünglich aus Asien, wahrscheinlich aus Kyme stammten.

Für eine möglichst unbefangene und objective Behandlung der noch jetzt
vorhandenen, in den Niovekreiö gehörigen Kunstdenkmäler aber wählt der Ver¬
fasser den Weg in aufsteigender Linie, „von den Zeichnungen und Malereien


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[0108] ständige Erzählung von der phrygischen Königstochter, der kinderreichen Gemahlin des Amphion, die, durch den Fernhintrcffer Apollen und die pfeilfrohc Artemis um ihres stolzen Rühmens willen zur Kinderlosen gemacht, an dem heimathlichen Felsen des Sipylos zu Stein erstarrt, in endlos rinnenden Thränenbächen ihren Verlust beweint. Wie in der langen Periode des Steigens und des Verfalls griechischer Dichtung durch so viele Bearbeitungen, nicht minder durch örtliche und ge¬ schichtliche Einflüsse, der ursprüngliche Kern des Mythus sich mit neuen Ideen erweitert und umkleidet hat, darüber mag der wißbegierige Leser sich in dem ersten Abschnitt des Buches vollständig unterrichten. Der Zweck dieser Zeilen kann bei dem Umfang und Jnhaltsreichthum dieses Werkes kein anderer sein, als eine übersichtliche Erwähnung der darin behandelten Gegenstände nach ihrem Zusammenhang und ihrer Reihenfolge im Interesse des größeren Publicums. Wir wenden uns zu dem zweiten Abschnitt, welchem als Schmuck und Erläu¬ terung eine Reihe von Abbildungen beigegeben ist, Wohl geeignet, den Verlauf einer großen Kunstperiode sich zu vergegenwärtigen. Der Verfasser beginnt seine archäologischen Untersuchungen mit dem wunder¬ baren, auf der kleinasiatischen Küste anderthalb Stunden vor Magnesia in dem Sipyiosgcbirge befindlichen Felsgebilde, welches, nahe gesehen, eine durchrissene, von Quellen überströmte Felswand, aus der Ferne aber in deutlichen Umrissen eine in Trauer versenkte sitzende Frauengestalt zeigt, von rinnenden Wasser- güssen überrieselt. Dieses Bild als wirkliche Niobe und zugleich als eines der ältesten Werke griechischen Geistes und griechischer Auffassung festzustellen, wenn¬ gleich unter dem Einfluß assyrischer Kunstübung entstanden, geht der Verfasser, wie dies überhaupt der Charakter des Buches ist, an einer ununterbrochenen Kette von Beweisgründen localer geschichtlicher und künstlerischer Natur vor¬ sichtig von einer Schlußfolge zur andern. Auf den attischen Boden übertragen, ward der Niobemythus alsbald, nicht durch die Hand, aber durch die Erfindung des Phidias zum Schmuck an dem Thronsessel des olympischen Zeus verwendet. In Athen selbst befand sich am Südostabhang der Akropolis, oberhalb des Dionysostheatcrs in einer Grotte eine Niobidendarstcllung, deren Pausanias mit genauer örtlicher Bezeichnung Erwähnung thut und deren Stiftung durch neuere Forschungen an den Namen des Thrasyllos geknüpft wird. Es sind dies leider verlorene Schätze, so wie auch jene berühmten Reliefs von Gold und Elfenbein, die seit der Zeit des Augustus die Thüren des Tempels des Apollo Palatinus schmückten und welche ursprünglich aus Asien, wahrscheinlich aus Kyme stammten. Für eine möglichst unbefangene und objective Behandlung der noch jetzt vorhandenen, in den Niovekreiö gehörigen Kunstdenkmäler aber wählt der Ver¬ fasser den Weg in aufsteigender Linie, „von den Zeichnungen und Malereien

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/108>, abgerufen am 27.05.2024.