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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Das älteste Christenthum und seine Literatur.
l. Der Kanon.

Der Protestantismus befindet sich der Sammlung ncutestamentlicher Schrif¬
ten gegenüber in einer eigenthümlichen Stellung. Als die Reformatoren die
katholische Hierarchie in ihrem Nerv angriffen und die Tradition, auf welche
sie sich stützt, verwarfen, hielten sie sich im Gegensatz gegen die Tradition um
so fester an die heilige Schrift. Sie beriefen sich damit auf das ursprüngliche
Christenthum gegenüber seinen späteren Ausartungen. In den von Aposteln
und Apostclschülcrn verfaßten Schriften des neuen Testamentes sahen sie die
älteste unverfälschte christliche Lehre fixirt. Hier nahmen sie ihre feste Position
zur Bestreitung des römischen Kirchcnthums. Die Reformatoren ahnten noch
nicht, daß sie den Kampf gegen die Tradition mit einer Waffe führten, welche
ihnen die Tradition selbst lieferte. Ihnen stand --- vereinzelte Zweifel ab¬
gerechnet, welche noch keine weitere Folge hatten -- die Echtheit und der gött¬
liche Ursprung jener Schriften schlechthin fest. Erst als ein entwickelteres kri¬
tisches Bewußtsein die Frage aufwarf: worauf gründet sich denn die Voraus¬
setzung, daß diese Schriften von Gott eingegeben und apostolischen Ursprungs
sind? kam jener Widerspruch offen zu Tage. Denn auf diese Frage gab es
keine andere Autwort, als daß die Schriften des neutestamentlichen Kanon zu
einer bestimmten Zeit den Vätern der katholischen Kirche als heilig und aposto.
tisch galten, denselben Vätern, deren Urtheil doch in andern Fällen keineswegs
unangefochten blieb. Diese selbst beriefen sich auf noch ältere Väter, aus deren
Ueberlieferung sie schöpften, und indem in.in diese Zeugnisse verfolgte, welche
sich bald in indirecte Zeugnisse verliefen, kam man auf einen Punkt, wo die
schriftliche Bezeugung überhaupt aufhörte und nur noch die mündliche Tradition
übrig blieb als Mittelglied zwischen dem angeblich apostolischen Ursprung einer
Schrift und ihrer apostolischen Geltung in der Kirche. Worauf anders grün¬
det sich also jener Anspruch als auf die Tradition? Ja noch mehr; ging man
dem allmäligen Anwachsen dieser Schriftsammlung nach, so fand sich, daß die
Tradition, d. h. die sich bildende Kirche großentheils diese Schriften erst erzeugt
hat. Sie war das Erste, schon vorher Vorhandene; erst in ihr und theilweise


Grenzboten II. 1864. 31
Das älteste Christenthum und seine Literatur.
l. Der Kanon.

Der Protestantismus befindet sich der Sammlung ncutestamentlicher Schrif¬
ten gegenüber in einer eigenthümlichen Stellung. Als die Reformatoren die
katholische Hierarchie in ihrem Nerv angriffen und die Tradition, auf welche
sie sich stützt, verwarfen, hielten sie sich im Gegensatz gegen die Tradition um
so fester an die heilige Schrift. Sie beriefen sich damit auf das ursprüngliche
Christenthum gegenüber seinen späteren Ausartungen. In den von Aposteln
und Apostclschülcrn verfaßten Schriften des neuen Testamentes sahen sie die
älteste unverfälschte christliche Lehre fixirt. Hier nahmen sie ihre feste Position
zur Bestreitung des römischen Kirchcnthums. Die Reformatoren ahnten noch
nicht, daß sie den Kampf gegen die Tradition mit einer Waffe führten, welche
ihnen die Tradition selbst lieferte. Ihnen stand —- vereinzelte Zweifel ab¬
gerechnet, welche noch keine weitere Folge hatten — die Echtheit und der gött¬
liche Ursprung jener Schriften schlechthin fest. Erst als ein entwickelteres kri¬
tisches Bewußtsein die Frage aufwarf: worauf gründet sich denn die Voraus¬
setzung, daß diese Schriften von Gott eingegeben und apostolischen Ursprungs
sind? kam jener Widerspruch offen zu Tage. Denn auf diese Frage gab es
keine andere Autwort, als daß die Schriften des neutestamentlichen Kanon zu
einer bestimmten Zeit den Vätern der katholischen Kirche als heilig und aposto.
tisch galten, denselben Vätern, deren Urtheil doch in andern Fällen keineswegs
unangefochten blieb. Diese selbst beriefen sich auf noch ältere Väter, aus deren
Ueberlieferung sie schöpften, und indem in.in diese Zeugnisse verfolgte, welche
sich bald in indirecte Zeugnisse verliefen, kam man auf einen Punkt, wo die
schriftliche Bezeugung überhaupt aufhörte und nur noch die mündliche Tradition
übrig blieb als Mittelglied zwischen dem angeblich apostolischen Ursprung einer
Schrift und ihrer apostolischen Geltung in der Kirche. Worauf anders grün¬
det sich also jener Anspruch als auf die Tradition? Ja noch mehr; ging man
dem allmäligen Anwachsen dieser Schriftsammlung nach, so fand sich, daß die
Tradition, d. h. die sich bildende Kirche großentheils diese Schriften erst erzeugt
hat. Sie war das Erste, schon vorher Vorhandene; erst in ihr und theilweise


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[0249] Das älteste Christenthum und seine Literatur. l. Der Kanon. Der Protestantismus befindet sich der Sammlung ncutestamentlicher Schrif¬ ten gegenüber in einer eigenthümlichen Stellung. Als die Reformatoren die katholische Hierarchie in ihrem Nerv angriffen und die Tradition, auf welche sie sich stützt, verwarfen, hielten sie sich im Gegensatz gegen die Tradition um so fester an die heilige Schrift. Sie beriefen sich damit auf das ursprüngliche Christenthum gegenüber seinen späteren Ausartungen. In den von Aposteln und Apostclschülcrn verfaßten Schriften des neuen Testamentes sahen sie die älteste unverfälschte christliche Lehre fixirt. Hier nahmen sie ihre feste Position zur Bestreitung des römischen Kirchcnthums. Die Reformatoren ahnten noch nicht, daß sie den Kampf gegen die Tradition mit einer Waffe führten, welche ihnen die Tradition selbst lieferte. Ihnen stand —- vereinzelte Zweifel ab¬ gerechnet, welche noch keine weitere Folge hatten — die Echtheit und der gött¬ liche Ursprung jener Schriften schlechthin fest. Erst als ein entwickelteres kri¬ tisches Bewußtsein die Frage aufwarf: worauf gründet sich denn die Voraus¬ setzung, daß diese Schriften von Gott eingegeben und apostolischen Ursprungs sind? kam jener Widerspruch offen zu Tage. Denn auf diese Frage gab es keine andere Autwort, als daß die Schriften des neutestamentlichen Kanon zu einer bestimmten Zeit den Vätern der katholischen Kirche als heilig und aposto. tisch galten, denselben Vätern, deren Urtheil doch in andern Fällen keineswegs unangefochten blieb. Diese selbst beriefen sich auf noch ältere Väter, aus deren Ueberlieferung sie schöpften, und indem in.in diese Zeugnisse verfolgte, welche sich bald in indirecte Zeugnisse verliefen, kam man auf einen Punkt, wo die schriftliche Bezeugung überhaupt aufhörte und nur noch die mündliche Tradition übrig blieb als Mittelglied zwischen dem angeblich apostolischen Ursprung einer Schrift und ihrer apostolischen Geltung in der Kirche. Worauf anders grün¬ det sich also jener Anspruch als auf die Tradition? Ja noch mehr; ging man dem allmäligen Anwachsen dieser Schriftsammlung nach, so fand sich, daß die Tradition, d. h. die sich bildende Kirche großentheils diese Schriften erst erzeugt hat. Sie war das Erste, schon vorher Vorhandene; erst in ihr und theilweise Grenzboten II. 1864. 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/249>, abgerufen am 06.05.2024.