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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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zum Zweck ihrer, Ausbildung und Befestigung sind die Bücher des Kanon ent¬
standen. Der Protestantismus stifte sich also auf ein Princip, das mit der
Tradition, welche er bekämpfte, selbst stehen oder fallen mußte. Er hielt sich
an einen Theil der Tradition, um die ganze Tradition damit zu beseitigen.
Kein Wunder, daß, je folgerichtiger die Grundsähe des Protestantismus sich
entwickelten, unausweichlich auch die Schriften des neuen Testaments selbst in
den Bereich der kritischen Untersuchung gezogen wurden. Mochten'die Einen
wehklagen, daß dem Protestantismus damit seine feste Grundlage geraubt
werde, so konnten die Anderen mit größeren Rechte darauf sich berufen, das?
diese Untersuchung nur die legitime Fortsetzung des protestantischen Gedankens
ist. und daß es um den Protestantismus übel bestellt wäre, wenn mau ihn auf
einen Grund bauen wollte, welcher der wissenschaftlichen Forschung nicht
Stand hält.

Oberflächlich betrachtet scheint es freilich ein frevelhaftes Beginnen der
Uebcrkritik, an einer Ansicht rütteln zu wollen, welche dnrch den einstimmigen
Glauben von sechzehn Jahrhunderten bestätigt und geheiligt ist und überdies
fast das einzige Band der christlichen Gemeinschaft dnrch alle Verschiedenheiten
der Bekenntnisse hindurch zu bilden scheint. Allein eine durch Alter ehrwürdige
Ueberlieferung ist damit noch nicht eine zuverlässige Ueberlieferung, und was
auf historischem Wege entstanden ist, muß sich auch gefallen lassen, mit den
Mitteln historischer Kritik geprüft zu werden. Eben die Entstehungsgeschichte
des Kanon") aber läßt sich wenigstens noch so weit nachweisen. daß dadurch --
noch abgesehen von allen Einzelfragen der Kritik -- die dogmatische Geltung,
welche derselbe in der katholischen und protestantischen Kirche erhalten hat, be¬
deutend erschüttert werden muß. Keineswegs nämlich ist der Kanon als ein
fertiges Ganzes aus der apostolischen Zeit übergegangen in die nachapostvlische;
sondern, wie der Begriff des Kanon erst weit später sich gebildet hat, so sind
auch die Grenzen dessen, was als kanonisch gelten sollte, mehre Jahrhunderte
hindurch schwankend geblieben. Der Kanon hat seine Geschichte, er hat sich
langsam und nicht ohne vielfachen Widerspruch gebildet. Lange Zeit war es
streitig, ob diese oder jene Schrift wirklich apostolischen Ursprungs sei. noch im
dritten Jahrhundert unterschied man Schriften, welche nach allgemeiner Ueber¬
einstimmung echt, und solche, welche "bestritten" waren. Noch sind uns einige
Schriften erhalten, welche eine Zeit lang als kanonisch galten und erst später
ausgeschieden wurden, und wiederum kam es vor. daß Schriften, deren Be¬
zeugung eine sehr alte und zuverlässige ist. einer späteren Zeit verdächtig wur¬
den. Eine Reihe von Evangelien und Apostelgeschichten, welche später ver-



') Man vgl. zu dem Folgenden besonders: Schwegler, das nachapostolische Zeitalter,
1846, und Hilgenfeld, der Kanon. 1863.'

zum Zweck ihrer, Ausbildung und Befestigung sind die Bücher des Kanon ent¬
standen. Der Protestantismus stifte sich also auf ein Princip, das mit der
Tradition, welche er bekämpfte, selbst stehen oder fallen mußte. Er hielt sich
an einen Theil der Tradition, um die ganze Tradition damit zu beseitigen.
Kein Wunder, daß, je folgerichtiger die Grundsähe des Protestantismus sich
entwickelten, unausweichlich auch die Schriften des neuen Testaments selbst in
den Bereich der kritischen Untersuchung gezogen wurden. Mochten'die Einen
wehklagen, daß dem Protestantismus damit seine feste Grundlage geraubt
werde, so konnten die Anderen mit größeren Rechte darauf sich berufen, das?
diese Untersuchung nur die legitime Fortsetzung des protestantischen Gedankens
ist. und daß es um den Protestantismus übel bestellt wäre, wenn mau ihn auf
einen Grund bauen wollte, welcher der wissenschaftlichen Forschung nicht
Stand hält.

Oberflächlich betrachtet scheint es freilich ein frevelhaftes Beginnen der
Uebcrkritik, an einer Ansicht rütteln zu wollen, welche dnrch den einstimmigen
Glauben von sechzehn Jahrhunderten bestätigt und geheiligt ist und überdies
fast das einzige Band der christlichen Gemeinschaft dnrch alle Verschiedenheiten
der Bekenntnisse hindurch zu bilden scheint. Allein eine durch Alter ehrwürdige
Ueberlieferung ist damit noch nicht eine zuverlässige Ueberlieferung, und was
auf historischem Wege entstanden ist, muß sich auch gefallen lassen, mit den
Mitteln historischer Kritik geprüft zu werden. Eben die Entstehungsgeschichte
des Kanon") aber läßt sich wenigstens noch so weit nachweisen. daß dadurch —
noch abgesehen von allen Einzelfragen der Kritik — die dogmatische Geltung,
welche derselbe in der katholischen und protestantischen Kirche erhalten hat, be¬
deutend erschüttert werden muß. Keineswegs nämlich ist der Kanon als ein
fertiges Ganzes aus der apostolischen Zeit übergegangen in die nachapostvlische;
sondern, wie der Begriff des Kanon erst weit später sich gebildet hat, so sind
auch die Grenzen dessen, was als kanonisch gelten sollte, mehre Jahrhunderte
hindurch schwankend geblieben. Der Kanon hat seine Geschichte, er hat sich
langsam und nicht ohne vielfachen Widerspruch gebildet. Lange Zeit war es
streitig, ob diese oder jene Schrift wirklich apostolischen Ursprungs sei. noch im
dritten Jahrhundert unterschied man Schriften, welche nach allgemeiner Ueber¬
einstimmung echt, und solche, welche „bestritten" waren. Noch sind uns einige
Schriften erhalten, welche eine Zeit lang als kanonisch galten und erst später
ausgeschieden wurden, und wiederum kam es vor. daß Schriften, deren Be¬
zeugung eine sehr alte und zuverlässige ist. einer späteren Zeit verdächtig wur¬
den. Eine Reihe von Evangelien und Apostelgeschichten, welche später ver-



') Man vgl. zu dem Folgenden besonders: Schwegler, das nachapostolische Zeitalter,
1846, und Hilgenfeld, der Kanon. 1863.'
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/250>, abgerufen am 27.05.2024.