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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Zur Geschichte des Urchristenthums.
2, Leben Jesu von Strauß.

Das Leben Jesu von Strauß erschien in seiner ersten Gestalt in den
Jahren 1835 und 1836. Welcher Gegensatz zwischen der heimlichen Stille und
Enge der Repetentenstube im tübinger Stift, in welcker es entstand, und dem
widerhallenden Lärm, mit dem es alsbald die Welt erfüllte! Nicht monatelang
zuvor angekündigt, sondern mit der Gewalt eines plötzlichen Ereignisses traf
es die unvorbereiteter Gelehrtenkreise. wie die politische Welt zuweilen mitten
im tiefsten Frieden durch einen ungeahnten Schlag erschüttert wird. Tiefer
Friede -- war der damalige Zustand der theologischen Welt so zu nennen?
Allerdings war wenigstens die Neigung zum Frieden überall vorhanden. Die
verschiedensten Richtungen, die aus der großen Geistesarbeit um die Scheide
des Jahrhunderts hervorgegangen waren, reichten der Kirche die Hand, die steh
behaglich des neu geschlossenen Bundes mit der Philosophie erfreute. Der
Rationalismus war derselben Geringschätzung anheimgefallen, wie das ganze acht-
- zehnte Jahrhundert. Hand in Hand mit der politischen Restauration war immer
zuversichtlicher das Werk der kirchlichen Restauration gegangen. Schleiermacher
hatte sich dieser Richtung so wenig ganz entziehen können als Hegel, und wenn
die beiden Schulen auch unter sich im Streite lagen, ob das Gefühl das Ein
und Alles der Religion sei. oder ob diese von der untergeordneten Stufe des
Gefühls fortschreiten müsse'zum begrifflichen Wissen. so war dies doch in Ab¬
sicht auf das Resultat von wenig' Belang. Denn wie die Schüler Schwer-
machers. die kritischen Thaten ihres Meisters abschwächend und verläugnend
bald den ganzen Kreis der kirchlichen Dogmen wiederherstellten, so wurde auch
in der hegelschen Schule das "Erheben zum Begriff" nicht anders verstanden,
als daß die Vorstellungen des religiösen Glaubens aus ihrer Prüfung durch
die dialektische Methode mit einem vollgiltigen Attest versehen hervorgingen, ein
Attest, den dann, wie billig, die Kirche ihrerseits zum Dante wieder der philo¬
sophischen Speculation ausstellte.

Während im Norden, der damals auch die politische Restauration reiner
durchführte, jener vorschnelle Bund zwischen Glauben und Denken geschlossen


Grenzboten II. 18V4. 6
Zur Geschichte des Urchristenthums.
2, Leben Jesu von Strauß.

Das Leben Jesu von Strauß erschien in seiner ersten Gestalt in den
Jahren 1835 und 1836. Welcher Gegensatz zwischen der heimlichen Stille und
Enge der Repetentenstube im tübinger Stift, in welcker es entstand, und dem
widerhallenden Lärm, mit dem es alsbald die Welt erfüllte! Nicht monatelang
zuvor angekündigt, sondern mit der Gewalt eines plötzlichen Ereignisses traf
es die unvorbereiteter Gelehrtenkreise. wie die politische Welt zuweilen mitten
im tiefsten Frieden durch einen ungeahnten Schlag erschüttert wird. Tiefer
Friede — war der damalige Zustand der theologischen Welt so zu nennen?
Allerdings war wenigstens die Neigung zum Frieden überall vorhanden. Die
verschiedensten Richtungen, die aus der großen Geistesarbeit um die Scheide
des Jahrhunderts hervorgegangen waren, reichten der Kirche die Hand, die steh
behaglich des neu geschlossenen Bundes mit der Philosophie erfreute. Der
Rationalismus war derselben Geringschätzung anheimgefallen, wie das ganze acht-
- zehnte Jahrhundert. Hand in Hand mit der politischen Restauration war immer
zuversichtlicher das Werk der kirchlichen Restauration gegangen. Schleiermacher
hatte sich dieser Richtung so wenig ganz entziehen können als Hegel, und wenn
die beiden Schulen auch unter sich im Streite lagen, ob das Gefühl das Ein
und Alles der Religion sei. oder ob diese von der untergeordneten Stufe des
Gefühls fortschreiten müsse'zum begrifflichen Wissen. so war dies doch in Ab¬
sicht auf das Resultat von wenig' Belang. Denn wie die Schüler Schwer-
machers. die kritischen Thaten ihres Meisters abschwächend und verläugnend
bald den ganzen Kreis der kirchlichen Dogmen wiederherstellten, so wurde auch
in der hegelschen Schule das „Erheben zum Begriff" nicht anders verstanden,
als daß die Vorstellungen des religiösen Glaubens aus ihrer Prüfung durch
die dialektische Methode mit einem vollgiltigen Attest versehen hervorgingen, ein
Attest, den dann, wie billig, die Kirche ihrerseits zum Dante wieder der philo¬
sophischen Speculation ausstellte.

Während im Norden, der damals auch die politische Restauration reiner
durchführte, jener vorschnelle Bund zwischen Glauben und Denken geschlossen


Grenzboten II. 18V4. 6
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[0049] Zur Geschichte des Urchristenthums. 2, Leben Jesu von Strauß. Das Leben Jesu von Strauß erschien in seiner ersten Gestalt in den Jahren 1835 und 1836. Welcher Gegensatz zwischen der heimlichen Stille und Enge der Repetentenstube im tübinger Stift, in welcker es entstand, und dem widerhallenden Lärm, mit dem es alsbald die Welt erfüllte! Nicht monatelang zuvor angekündigt, sondern mit der Gewalt eines plötzlichen Ereignisses traf es die unvorbereiteter Gelehrtenkreise. wie die politische Welt zuweilen mitten im tiefsten Frieden durch einen ungeahnten Schlag erschüttert wird. Tiefer Friede — war der damalige Zustand der theologischen Welt so zu nennen? Allerdings war wenigstens die Neigung zum Frieden überall vorhanden. Die verschiedensten Richtungen, die aus der großen Geistesarbeit um die Scheide des Jahrhunderts hervorgegangen waren, reichten der Kirche die Hand, die steh behaglich des neu geschlossenen Bundes mit der Philosophie erfreute. Der Rationalismus war derselben Geringschätzung anheimgefallen, wie das ganze acht- - zehnte Jahrhundert. Hand in Hand mit der politischen Restauration war immer zuversichtlicher das Werk der kirchlichen Restauration gegangen. Schleiermacher hatte sich dieser Richtung so wenig ganz entziehen können als Hegel, und wenn die beiden Schulen auch unter sich im Streite lagen, ob das Gefühl das Ein und Alles der Religion sei. oder ob diese von der untergeordneten Stufe des Gefühls fortschreiten müsse'zum begrifflichen Wissen. so war dies doch in Ab¬ sicht auf das Resultat von wenig' Belang. Denn wie die Schüler Schwer- machers. die kritischen Thaten ihres Meisters abschwächend und verläugnend bald den ganzen Kreis der kirchlichen Dogmen wiederherstellten, so wurde auch in der hegelschen Schule das „Erheben zum Begriff" nicht anders verstanden, als daß die Vorstellungen des religiösen Glaubens aus ihrer Prüfung durch die dialektische Methode mit einem vollgiltigen Attest versehen hervorgingen, ein Attest, den dann, wie billig, die Kirche ihrerseits zum Dante wieder der philo¬ sophischen Speculation ausstellte. Während im Norden, der damals auch die politische Restauration reiner durchführte, jener vorschnelle Bund zwischen Glauben und Denken geschlossen Grenzboten II. 18V4. 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/49>, abgerufen am 06.05.2024.