Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

wurde, war an der entlegenen süddeutschen Universität eine jüngere Gelehrten¬
schule, in welcher Baurs kritischer Geist lebendig war, bevor er seine epoche¬
machenden Werke gezeitigt hatte, durch eifriges Studium Schleiermachers und
Hegels auf tiefer liegende Consequenzen geführt worden, denen sie nun mit
klaren Augen, und fester Zuversicht, mit einer unbestechlichen kritischen Schärfe
nachgingen. Die Kritik war es, welche die Schule Schleiermachers vergessen,
diejenige Hegels von Anfang an verläugnet hatte. Jetzt rächte sie sich, und
ihr erstes reifes Werk war Strauß' Lebe" Jesu, das nun jenem geträumten
Frieden mit einem jähen Schlag ein Ende machte, und durch die schonungslose
Aufdeckung von Gegensätzen, die bisher künstlich verhüllt waren, zu einer Revi¬
sion des gesammten theologischen Besitzes der Gegenwart nöthigte.

Man hat die Bedeutung des straußischen Werth, oder wenigstens seine
Originalität damit herabsetzen wollen, baß man sagte, es sei nur eine Richtung
und einheitliche Zusammenstellung aller der Zweifel und Anfechtungen, welche
bisher schon die neutestamentliche Kritik aufgehäuft hatte; auch die Theorie der
Mythenbildung sei ja längst vor ihm entdeckt und auf einzelne Punkte des
neuen Testaments angewendet worden. Mit Recht entgegnete Strauß darauf
in seinen berühmten Streitschriften: schon die Wirkung, welche das Buch hervor¬
gebracht, beweise augenscheinlich, daß es wesentlich Neues gab, und wenn er
nun dennoch seinen eigenen Nachweisungen zufolge einen großen Theil des
kritischen Stoffes den Borgängern verdanke, so werde dadurch nur klar, daß es
bei wissenschaftlichen Arbeiten nicht auf den Stoff, sondern auf die Art der Ver¬
wendung ankommt. "Daß an eine Durchführung des mythischen Gesichtspunkts
durch das Ganze der evangelischen Geschichte auch schon Andere vor mir ge¬
dacht haben, das kann mich nicht in Schatten stellen, da ich jenen noch dazu
ganz unbestimmten Gedanken in meiner Weise näher bestimmt, und was die
Hauptsache ist, ausgeführt habe." Strauß hat sich im Grund mit diesen Worten
sehr bescheiden ausgedrückt. Denn wenn er auch einen im Wesentlichen schon
vorhandenen Stoff nnr ordnete und unter einen einheitlichen Gesichtspunkt
stellte, so war damit sofort der weitere Fortschritt gegeben, daß es in Zukunft
nicht mehr auf die Deutung und Auslegung einzelner Punkte ankam, die man
sich bald so bald so zurecht legen mochte; vielmehr hatte die freie Forschung
ihr Recht durch ein so wohlgefügtes, eng geschlossenes, nach allen Seiten ge¬
decktes Gebäude erwiesen, daß die gegnerischen Ansichten zur Bestreitung wie
zur Selbstvertheidigung ihm gegenüber eine principielle Stellung einzunehmen
genöthigt waren. Der Streit wurde überhaupt auf einen höheren principiellen
Boden geführt, und dies war ein wesentlich Neues. Denn der Zustand der
neutestamentlichen Kritik vor Strauß war der eines haltlosen Schwankens, eines
grundsatzloser Tastens. Entsprechend jener Friedensncigung. welche das Ver¬
hältniß der Religion zur Philosophie bestimmte, hatte man auch bei den neu-


wurde, war an der entlegenen süddeutschen Universität eine jüngere Gelehrten¬
schule, in welcher Baurs kritischer Geist lebendig war, bevor er seine epoche¬
machenden Werke gezeitigt hatte, durch eifriges Studium Schleiermachers und
Hegels auf tiefer liegende Consequenzen geführt worden, denen sie nun mit
klaren Augen, und fester Zuversicht, mit einer unbestechlichen kritischen Schärfe
nachgingen. Die Kritik war es, welche die Schule Schleiermachers vergessen,
diejenige Hegels von Anfang an verläugnet hatte. Jetzt rächte sie sich, und
ihr erstes reifes Werk war Strauß' Lebe» Jesu, das nun jenem geträumten
Frieden mit einem jähen Schlag ein Ende machte, und durch die schonungslose
Aufdeckung von Gegensätzen, die bisher künstlich verhüllt waren, zu einer Revi¬
sion des gesammten theologischen Besitzes der Gegenwart nöthigte.

Man hat die Bedeutung des straußischen Werth, oder wenigstens seine
Originalität damit herabsetzen wollen, baß man sagte, es sei nur eine Richtung
und einheitliche Zusammenstellung aller der Zweifel und Anfechtungen, welche
bisher schon die neutestamentliche Kritik aufgehäuft hatte; auch die Theorie der
Mythenbildung sei ja längst vor ihm entdeckt und auf einzelne Punkte des
neuen Testaments angewendet worden. Mit Recht entgegnete Strauß darauf
in seinen berühmten Streitschriften: schon die Wirkung, welche das Buch hervor¬
gebracht, beweise augenscheinlich, daß es wesentlich Neues gab, und wenn er
nun dennoch seinen eigenen Nachweisungen zufolge einen großen Theil des
kritischen Stoffes den Borgängern verdanke, so werde dadurch nur klar, daß es
bei wissenschaftlichen Arbeiten nicht auf den Stoff, sondern auf die Art der Ver¬
wendung ankommt. „Daß an eine Durchführung des mythischen Gesichtspunkts
durch das Ganze der evangelischen Geschichte auch schon Andere vor mir ge¬
dacht haben, das kann mich nicht in Schatten stellen, da ich jenen noch dazu
ganz unbestimmten Gedanken in meiner Weise näher bestimmt, und was die
Hauptsache ist, ausgeführt habe." Strauß hat sich im Grund mit diesen Worten
sehr bescheiden ausgedrückt. Denn wenn er auch einen im Wesentlichen schon
vorhandenen Stoff nnr ordnete und unter einen einheitlichen Gesichtspunkt
stellte, so war damit sofort der weitere Fortschritt gegeben, daß es in Zukunft
nicht mehr auf die Deutung und Auslegung einzelner Punkte ankam, die man
sich bald so bald so zurecht legen mochte; vielmehr hatte die freie Forschung
ihr Recht durch ein so wohlgefügtes, eng geschlossenes, nach allen Seiten ge¬
decktes Gebäude erwiesen, daß die gegnerischen Ansichten zur Bestreitung wie
zur Selbstvertheidigung ihm gegenüber eine principielle Stellung einzunehmen
genöthigt waren. Der Streit wurde überhaupt auf einen höheren principiellen
Boden geführt, und dies war ein wesentlich Neues. Denn der Zustand der
neutestamentlichen Kritik vor Strauß war der eines haltlosen Schwankens, eines
grundsatzloser Tastens. Entsprechend jener Friedensncigung. welche das Ver¬
hältniß der Religion zur Philosophie bestimmte, hatte man auch bei den neu-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0050" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/188611"/>
          <p xml:id="ID_135" prev="#ID_134"> wurde, war an der entlegenen süddeutschen Universität eine jüngere Gelehrten¬<lb/>
schule, in welcher Baurs kritischer Geist lebendig war, bevor er seine epoche¬<lb/>
machenden Werke gezeitigt hatte, durch eifriges Studium Schleiermachers und<lb/>
Hegels auf tiefer liegende Consequenzen geführt worden, denen sie nun mit<lb/>
klaren Augen, und fester Zuversicht, mit einer unbestechlichen kritischen Schärfe<lb/>
nachgingen. Die Kritik war es, welche die Schule Schleiermachers vergessen,<lb/>
diejenige Hegels von Anfang an verläugnet hatte. Jetzt rächte sie sich, und<lb/>
ihr erstes reifes Werk war Strauß' Lebe» Jesu, das nun jenem geträumten<lb/>
Frieden mit einem jähen Schlag ein Ende machte, und durch die schonungslose<lb/>
Aufdeckung von Gegensätzen, die bisher künstlich verhüllt waren, zu einer Revi¬<lb/>
sion des gesammten theologischen Besitzes der Gegenwart nöthigte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_136" next="#ID_137"> Man hat die Bedeutung des straußischen Werth, oder wenigstens seine<lb/>
Originalität damit herabsetzen wollen, baß man sagte, es sei nur eine Richtung<lb/>
und einheitliche Zusammenstellung aller der Zweifel und Anfechtungen, welche<lb/>
bisher schon die neutestamentliche Kritik aufgehäuft hatte; auch die Theorie der<lb/>
Mythenbildung sei ja längst vor ihm entdeckt und auf einzelne Punkte des<lb/>
neuen Testaments angewendet worden. Mit Recht entgegnete Strauß darauf<lb/>
in seinen berühmten Streitschriften: schon die Wirkung, welche das Buch hervor¬<lb/>
gebracht, beweise augenscheinlich, daß es wesentlich Neues gab, und wenn er<lb/>
nun dennoch seinen eigenen Nachweisungen zufolge einen großen Theil des<lb/>
kritischen Stoffes den Borgängern verdanke, so werde dadurch nur klar, daß es<lb/>
bei wissenschaftlichen Arbeiten nicht auf den Stoff, sondern auf die Art der Ver¬<lb/>
wendung ankommt. &#x201E;Daß an eine Durchführung des mythischen Gesichtspunkts<lb/>
durch das Ganze der evangelischen Geschichte auch schon Andere vor mir ge¬<lb/>
dacht haben, das kann mich nicht in Schatten stellen, da ich jenen noch dazu<lb/>
ganz unbestimmten Gedanken in meiner Weise näher bestimmt, und was die<lb/>
Hauptsache ist, ausgeführt habe." Strauß hat sich im Grund mit diesen Worten<lb/>
sehr bescheiden ausgedrückt. Denn wenn er auch einen im Wesentlichen schon<lb/>
vorhandenen Stoff nnr ordnete und unter einen einheitlichen Gesichtspunkt<lb/>
stellte, so war damit sofort der weitere Fortschritt gegeben, daß es in Zukunft<lb/>
nicht mehr auf die Deutung und Auslegung einzelner Punkte ankam, die man<lb/>
sich bald so bald so zurecht legen mochte; vielmehr hatte die freie Forschung<lb/>
ihr Recht durch ein so wohlgefügtes, eng geschlossenes, nach allen Seiten ge¬<lb/>
decktes Gebäude erwiesen, daß die gegnerischen Ansichten zur Bestreitung wie<lb/>
zur Selbstvertheidigung ihm gegenüber eine principielle Stellung einzunehmen<lb/>
genöthigt waren. Der Streit wurde überhaupt auf einen höheren principiellen<lb/>
Boden geführt, und dies war ein wesentlich Neues. Denn der Zustand der<lb/>
neutestamentlichen Kritik vor Strauß war der eines haltlosen Schwankens, eines<lb/>
grundsatzloser Tastens. Entsprechend jener Friedensncigung. welche das Ver¬<lb/>
hältniß der Religion zur Philosophie bestimmte, hatte man auch bei den neu-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0050] wurde, war an der entlegenen süddeutschen Universität eine jüngere Gelehrten¬ schule, in welcher Baurs kritischer Geist lebendig war, bevor er seine epoche¬ machenden Werke gezeitigt hatte, durch eifriges Studium Schleiermachers und Hegels auf tiefer liegende Consequenzen geführt worden, denen sie nun mit klaren Augen, und fester Zuversicht, mit einer unbestechlichen kritischen Schärfe nachgingen. Die Kritik war es, welche die Schule Schleiermachers vergessen, diejenige Hegels von Anfang an verläugnet hatte. Jetzt rächte sie sich, und ihr erstes reifes Werk war Strauß' Lebe» Jesu, das nun jenem geträumten Frieden mit einem jähen Schlag ein Ende machte, und durch die schonungslose Aufdeckung von Gegensätzen, die bisher künstlich verhüllt waren, zu einer Revi¬ sion des gesammten theologischen Besitzes der Gegenwart nöthigte. Man hat die Bedeutung des straußischen Werth, oder wenigstens seine Originalität damit herabsetzen wollen, baß man sagte, es sei nur eine Richtung und einheitliche Zusammenstellung aller der Zweifel und Anfechtungen, welche bisher schon die neutestamentliche Kritik aufgehäuft hatte; auch die Theorie der Mythenbildung sei ja längst vor ihm entdeckt und auf einzelne Punkte des neuen Testaments angewendet worden. Mit Recht entgegnete Strauß darauf in seinen berühmten Streitschriften: schon die Wirkung, welche das Buch hervor¬ gebracht, beweise augenscheinlich, daß es wesentlich Neues gab, und wenn er nun dennoch seinen eigenen Nachweisungen zufolge einen großen Theil des kritischen Stoffes den Borgängern verdanke, so werde dadurch nur klar, daß es bei wissenschaftlichen Arbeiten nicht auf den Stoff, sondern auf die Art der Ver¬ wendung ankommt. „Daß an eine Durchführung des mythischen Gesichtspunkts durch das Ganze der evangelischen Geschichte auch schon Andere vor mir ge¬ dacht haben, das kann mich nicht in Schatten stellen, da ich jenen noch dazu ganz unbestimmten Gedanken in meiner Weise näher bestimmt, und was die Hauptsache ist, ausgeführt habe." Strauß hat sich im Grund mit diesen Worten sehr bescheiden ausgedrückt. Denn wenn er auch einen im Wesentlichen schon vorhandenen Stoff nnr ordnete und unter einen einheitlichen Gesichtspunkt stellte, so war damit sofort der weitere Fortschritt gegeben, daß es in Zukunft nicht mehr auf die Deutung und Auslegung einzelner Punkte ankam, die man sich bald so bald so zurecht legen mochte; vielmehr hatte die freie Forschung ihr Recht durch ein so wohlgefügtes, eng geschlossenes, nach allen Seiten ge¬ decktes Gebäude erwiesen, daß die gegnerischen Ansichten zur Bestreitung wie zur Selbstvertheidigung ihm gegenüber eine principielle Stellung einzunehmen genöthigt waren. Der Streit wurde überhaupt auf einen höheren principiellen Boden geführt, und dies war ein wesentlich Neues. Denn der Zustand der neutestamentlichen Kritik vor Strauß war der eines haltlosen Schwankens, eines grundsatzloser Tastens. Entsprechend jener Friedensncigung. welche das Ver¬ hältniß der Religion zur Philosophie bestimmte, hatte man auch bei den neu-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/50
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/50>, abgerufen am 28.05.2024.