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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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man wird begreifen, was es heißt: "denn er redete gewaltig und nicht wie
die Schriftgelehrten". Wie wenig streng Geschichtliches wir von Jesu
wissen, eine hohe gewaltige Erscheinung muß der Mann gewesen sein, der das
Christenthum gestiftet hat. So hoch seine Reden über den Spitzfindigkeiten des
Talmuds und den unklaren Deductionen des Nömerbricfs stehn, so hoch stand
er über den Pharisäern und über Paulus.

Von den Bemerkungen des Anhanges über Strauß und Renan sind manche
recht beachtenswert!), aber im Ganzen wird wenigstens die Stellung des Erste¬
ren nicht dadurch erschüttert. Und was die getadelten Aussprüche Renans über
Charakterzüge des jüdischen Stammes betrifft, so sind dieselben wohl nach sei¬
ner Weise etwas zu scharf zugespitzt und zu pathetisch gehalten, aber der Haupt¬
sache nach müssen wir sie als richtig anerkennen. Wenn z. B. Renan Her-
bigkeit in der Polemik für einen Hauptfehler der Juden erklärt, so können wir
uns noch jetzt leicht von der Nichtigkeit dieser Beobachtung überzeuge", und
es macht dem Verfasser ganz besondere Ehre, daß er von diesem Fehler voll¬
kommen frei ist.

Wir könnten noch manche schöne Auseinandersetzung, manche feine Be¬
merkung aus dem Buche hervorheben, wir könnten auch noch gegen diesen oder
jenen Punkt Einsprache erheben, aber wir wollen lieber auf das Buch selbst
verweisen und find überzeugt, daß es jeden gebildeten Leser, der nicbt auf einem
beschränkt religiösen Standpunkt steht, Genuß und Belehrung gewähren wird.




Vermischte Literatur.
Geschichte der ungrischen Dichtung von den ältesten Zeiten bis auf
Alexander Kisfaludy von Dr. Franz Toldy. Aus dem Ungrischen übersetzt von
Gustav Stcinacker, Pesth, Verlag von G. Hcckenast. 1863. 460 S.

Auch in Ungarn hat jene Ansicht und Behandlung der Geschichte sich Bahn
gebrochen, nach welcher dieselbe nicht mehr blos in der Kenntniß der Kriege und
der politischen Wirren, Kämpfe und Umgestaltungen, sondern in der Kunde auch
von den Kräften und Mächten besteht, welche in Kunst und Literatur, Religion,
Wissenschaft und geselligem Leben thätig sind. Man schreibt auch hier nicht mehr
blos äußere Geschichte, sondern versucht in die Entwicklung des Volkes einzudringen,
durch die es wie ein Individuum sich zu seinem gegenwärtigen Wesen und Leben
ausbildete. Seit einer Reihe von Jahren schon hat man, von Deutschland enge-


man wird begreifen, was es heißt: „denn er redete gewaltig und nicht wie
die Schriftgelehrten". Wie wenig streng Geschichtliches wir von Jesu
wissen, eine hohe gewaltige Erscheinung muß der Mann gewesen sein, der das
Christenthum gestiftet hat. So hoch seine Reden über den Spitzfindigkeiten des
Talmuds und den unklaren Deductionen des Nömerbricfs stehn, so hoch stand
er über den Pharisäern und über Paulus.

Von den Bemerkungen des Anhanges über Strauß und Renan sind manche
recht beachtenswert!), aber im Ganzen wird wenigstens die Stellung des Erste¬
ren nicht dadurch erschüttert. Und was die getadelten Aussprüche Renans über
Charakterzüge des jüdischen Stammes betrifft, so sind dieselben wohl nach sei¬
ner Weise etwas zu scharf zugespitzt und zu pathetisch gehalten, aber der Haupt¬
sache nach müssen wir sie als richtig anerkennen. Wenn z. B. Renan Her-
bigkeit in der Polemik für einen Hauptfehler der Juden erklärt, so können wir
uns noch jetzt leicht von der Nichtigkeit dieser Beobachtung überzeuge», und
es macht dem Verfasser ganz besondere Ehre, daß er von diesem Fehler voll¬
kommen frei ist.

Wir könnten noch manche schöne Auseinandersetzung, manche feine Be¬
merkung aus dem Buche hervorheben, wir könnten auch noch gegen diesen oder
jenen Punkt Einsprache erheben, aber wir wollen lieber auf das Buch selbst
verweisen und find überzeugt, daß es jeden gebildeten Leser, der nicbt auf einem
beschränkt religiösen Standpunkt steht, Genuß und Belehrung gewähren wird.




Vermischte Literatur.
Geschichte der ungrischen Dichtung von den ältesten Zeiten bis auf
Alexander Kisfaludy von Dr. Franz Toldy. Aus dem Ungrischen übersetzt von
Gustav Stcinacker, Pesth, Verlag von G. Hcckenast. 1863. 460 S.

Auch in Ungarn hat jene Ansicht und Behandlung der Geschichte sich Bahn
gebrochen, nach welcher dieselbe nicht mehr blos in der Kenntniß der Kriege und
der politischen Wirren, Kämpfe und Umgestaltungen, sondern in der Kunde auch
von den Kräften und Mächten besteht, welche in Kunst und Literatur, Religion,
Wissenschaft und geselligem Leben thätig sind. Man schreibt auch hier nicht mehr
blos äußere Geschichte, sondern versucht in die Entwicklung des Volkes einzudringen,
durch die es wie ein Individuum sich zu seinem gegenwärtigen Wesen und Leben
ausbildete. Seit einer Reihe von Jahren schon hat man, von Deutschland enge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/83>, abgerufen am 05.05.2024.