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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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Aussichten des Stiidterechts.

Vr. Ernst v. Möller, Reg.-Assessor: Preußisches Stadtrecht. Breslau, 1864.
Verlag von Clar.

Die politische Wiedergeburt des festländischen Europa wurde durch die
Kroße französische Revolution eingeleitet. Durch die Macht der Umstände und
Mißstände angetrieben hatte man von den englischen Verhältnissen ein allge¬
meines Schema des staatlichen Lebens abstrahirt, und alle Reformgedanken, so
Weit sie auch übrigens ausschweifen mochten, kamen wenigstens darin überein,
mit der allgemeinen Staatsordnung den Anfang zu machen und vorläufig noch
gar nicht ernstlich an die andern natürlichen Einheiten und kleineren Kreise des
politischen Daseins zu denken. Das Programm der politischen Freiheit sowie
auch das des wirthschaftlichen Wohlstandes, wie es vom achtzehnten Jahrhun¬
dert aufgestellt wurde, war in einem so großen Stile geschrieben und bewegte
sich so hoch über der Einzelgliederung des staatlichen Organismus, daß man
sich nicht wundern darf, wenn es nur die großen Züge und die allgemeinen,
ja oft vage zu nennenden Principien andeutete. Die spätere Zeit mußte in
dem Bestreben, die Principien in die Wirklichkeit einzuführen, die nun schon
°se erprobte Erfahrung machen, daß sich weder politische Freiheit noch wirt¬
schaftlicher Wohlstand durch den blos auf die großen Kreise des öffentlichen
Daseins berechneten Schematismus gewährleisten lassen. Die reifere poli¬
tische Praxis hat sich daher immer mehr mit dem Gedanken befreundet, die
deinen natürlichen Einheiten des politischen Daseins d. h. die Gemeinden als
den Boden anzusehen, durch dessen Bearbeitung allein eine Sicherstellung
und Ausbildung der eigentlich staatlichen Freiheit möglich ist. Von diesem Ge¬
danken war bereits die Steinsche Städteordnung getragen und jetzt, nachdem
bald ein halbes Jahrhundert abgelaufen ist, erkennen Freund und Feind der
svrtdrängenden Entwicklung die kaum überschätzbare Bedeutsamkeit eines regsamen
^emeindelebens an. Man sieht jetzt klar ein, daß das Gebäude der politischen
Freiheit, wenn es nicht in die Luft gesetzt sein soll, auf die Selbständigkeit der
kleineren Lebenskreise gegründet werden müsse, und man drängt daher auf an¬
gemessene Gemeindefreiheit.


Grenzboten I. 186S. 61
Aussichten des Stiidterechts.

Vr. Ernst v. Möller, Reg.-Assessor: Preußisches Stadtrecht. Breslau, 1864.
Verlag von Clar.

Die politische Wiedergeburt des festländischen Europa wurde durch die
Kroße französische Revolution eingeleitet. Durch die Macht der Umstände und
Mißstände angetrieben hatte man von den englischen Verhältnissen ein allge¬
meines Schema des staatlichen Lebens abstrahirt, und alle Reformgedanken, so
Weit sie auch übrigens ausschweifen mochten, kamen wenigstens darin überein,
mit der allgemeinen Staatsordnung den Anfang zu machen und vorläufig noch
gar nicht ernstlich an die andern natürlichen Einheiten und kleineren Kreise des
politischen Daseins zu denken. Das Programm der politischen Freiheit sowie
auch das des wirthschaftlichen Wohlstandes, wie es vom achtzehnten Jahrhun¬
dert aufgestellt wurde, war in einem so großen Stile geschrieben und bewegte
sich so hoch über der Einzelgliederung des staatlichen Organismus, daß man
sich nicht wundern darf, wenn es nur die großen Züge und die allgemeinen,
ja oft vage zu nennenden Principien andeutete. Die spätere Zeit mußte in
dem Bestreben, die Principien in die Wirklichkeit einzuführen, die nun schon
°se erprobte Erfahrung machen, daß sich weder politische Freiheit noch wirt¬
schaftlicher Wohlstand durch den blos auf die großen Kreise des öffentlichen
Daseins berechneten Schematismus gewährleisten lassen. Die reifere poli¬
tische Praxis hat sich daher immer mehr mit dem Gedanken befreundet, die
deinen natürlichen Einheiten des politischen Daseins d. h. die Gemeinden als
den Boden anzusehen, durch dessen Bearbeitung allein eine Sicherstellung
und Ausbildung der eigentlich staatlichen Freiheit möglich ist. Von diesem Ge¬
danken war bereits die Steinsche Städteordnung getragen und jetzt, nachdem
bald ein halbes Jahrhundert abgelaufen ist, erkennen Freund und Feind der
svrtdrängenden Entwicklung die kaum überschätzbare Bedeutsamkeit eines regsamen
^emeindelebens an. Man sieht jetzt klar ein, daß das Gebäude der politischen
Freiheit, wenn es nicht in die Luft gesetzt sein soll, auf die Selbständigkeit der
kleineren Lebenskreise gegründet werden müsse, und man drängt daher auf an¬
gemessene Gemeindefreiheit.


Grenzboten I. 186S. 61
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[0427] Aussichten des Stiidterechts. Vr. Ernst v. Möller, Reg.-Assessor: Preußisches Stadtrecht. Breslau, 1864. Verlag von Clar. Die politische Wiedergeburt des festländischen Europa wurde durch die Kroße französische Revolution eingeleitet. Durch die Macht der Umstände und Mißstände angetrieben hatte man von den englischen Verhältnissen ein allge¬ meines Schema des staatlichen Lebens abstrahirt, und alle Reformgedanken, so Weit sie auch übrigens ausschweifen mochten, kamen wenigstens darin überein, mit der allgemeinen Staatsordnung den Anfang zu machen und vorläufig noch gar nicht ernstlich an die andern natürlichen Einheiten und kleineren Kreise des politischen Daseins zu denken. Das Programm der politischen Freiheit sowie auch das des wirthschaftlichen Wohlstandes, wie es vom achtzehnten Jahrhun¬ dert aufgestellt wurde, war in einem so großen Stile geschrieben und bewegte sich so hoch über der Einzelgliederung des staatlichen Organismus, daß man sich nicht wundern darf, wenn es nur die großen Züge und die allgemeinen, ja oft vage zu nennenden Principien andeutete. Die spätere Zeit mußte in dem Bestreben, die Principien in die Wirklichkeit einzuführen, die nun schon °se erprobte Erfahrung machen, daß sich weder politische Freiheit noch wirt¬ schaftlicher Wohlstand durch den blos auf die großen Kreise des öffentlichen Daseins berechneten Schematismus gewährleisten lassen. Die reifere poli¬ tische Praxis hat sich daher immer mehr mit dem Gedanken befreundet, die deinen natürlichen Einheiten des politischen Daseins d. h. die Gemeinden als den Boden anzusehen, durch dessen Bearbeitung allein eine Sicherstellung und Ausbildung der eigentlich staatlichen Freiheit möglich ist. Von diesem Ge¬ danken war bereits die Steinsche Städteordnung getragen und jetzt, nachdem bald ein halbes Jahrhundert abgelaufen ist, erkennen Freund und Feind der svrtdrängenden Entwicklung die kaum überschätzbare Bedeutsamkeit eines regsamen ^emeindelebens an. Man sieht jetzt klar ein, daß das Gebäude der politischen Freiheit, wenn es nicht in die Luft gesetzt sein soll, auf die Selbständigkeit der kleineren Lebenskreise gegründet werden müsse, und man drängt daher auf an¬ gemessene Gemeindefreiheit. Grenzboten I. 186S. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/427>, abgerufen am 29.04.2024.