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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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Die politische Praxis Steins war den theoretischen Einsichten anderthalb Men¬
schenalter vorausgeeilt. Nach Beseitigung des Uebels, durch welches die Reform
hervorgerufen worden war, machte sich auch wieder die alte Neigung der Restaura¬
tionen geltend. Nicht einmal die Zeit von Achtundvierzig, welche doch die all¬
gemeine Ordnung so ernstlich berührte, vermochte nachhaltig auf die städtische Freiheit
zu wirken. Man kann getrost behaupten, daß die preußische Gesetzgebung rück¬
sichtlich des Städtewesens noch nicht einmal dem Geist der Steinschen Reformen
gerecht wurde. Der auf die achtundvierziger Ereignisse folgende Rückschlag hat
die Gemeindeangelegenheiten noch weit mehr als die staatsbürgerliche Freiheit
dem restaurativen Geiste überliefert, so daß wir uns jetzt in einem Zustande
befinden, in welchem das Gemeinderecht in nicht geringer Disharmonie mit dem
gesetzlich anerkannten (ich sage nicht mit dem praktisch geübten) Staatsrechte steht.

So viel auch noch für die Ausbildung und Gestaltung der allgemeinen
constitutionellen Formen zu wünschen übrig bleibt, und so gering auch das Maß
der staatsbürgerlichen Theilnahme an den allgemeinen politischen Functionen
ist, so wird dennoch die Gemeindefreiheit noch ziemlich weit davon entfernt,
ihrerseits diesem Maße zu entsprechen. Das erste und unumgänglichste Erfor-
derniß gesunder politischer Gestaltung ist recht mangelhaft erfüllt: die Ueber¬
einstimmung zwischen dem allgemeinen Staatsrecht und dem Gemeinderecht
ist noch nicht hergestellt. In den beiden Gebieten des öffentlichen Lebens ist
noch wenig Einheit des Princips anzutreffen. Wahrend das Staatsleben von
dem Geiste der Emancipation und der allmäligen Beschränkung des Staats¬
absolutismus bereits durchdrungen ist. wird die Regelung- des Gemeindelebens
noch vorwiegend vom Princip der Bevormundung beherrscht.

Glücklicherweise ist gegenwärtig die Theorie und die herrschende Gesinnung
dem thatsächlich bestehenden Gemeinderecht in einer ähnlichen Weise voraus,
als es die politische Praxis unter den Händen Steins den damaligen Zeitideen
war. Schlimme "Erfahrungen, unter denen die neueste Gestaltung des Consti-
tutionalismus in Preußen nicht die einzige ist, haben die Ueberzeugung befestigt,
daß es an der Zeit sei, gleichsam Cellularpathologie zu treiben und die letzten
Ursachen der krankhaften Entartungen des Verfassungslebens in den kleinen
natürlichen Einheiten des politischen und socialen Daseins zu suchen. Diese
Ueberzeugung ist durch theoretische Studien an der Geschichte fremder Staats¬
körper und selbst durch romantische Vertiefung in die einstige Blüthe deut¬
schen Städtethums gefördert worden. Das englische Selfgovernment ist zum
Schlagwort geworden, und so wenig es auch in der Breite der politischen
Bildung seinem historischen und thatsächlichen Sinne gemäß verstanden werden
mag, so übt doch schon das Wort "Selbstregierung" einen nicht zu unterschätzen¬
den Zauber aus. Vielleicht grade weil man das Detail der englischen Zustände
und den unläugbaren Verfall derselben nicht kennt, vielleicht grade weil man


Die politische Praxis Steins war den theoretischen Einsichten anderthalb Men¬
schenalter vorausgeeilt. Nach Beseitigung des Uebels, durch welches die Reform
hervorgerufen worden war, machte sich auch wieder die alte Neigung der Restaura¬
tionen geltend. Nicht einmal die Zeit von Achtundvierzig, welche doch die all¬
gemeine Ordnung so ernstlich berührte, vermochte nachhaltig auf die städtische Freiheit
zu wirken. Man kann getrost behaupten, daß die preußische Gesetzgebung rück¬
sichtlich des Städtewesens noch nicht einmal dem Geist der Steinschen Reformen
gerecht wurde. Der auf die achtundvierziger Ereignisse folgende Rückschlag hat
die Gemeindeangelegenheiten noch weit mehr als die staatsbürgerliche Freiheit
dem restaurativen Geiste überliefert, so daß wir uns jetzt in einem Zustande
befinden, in welchem das Gemeinderecht in nicht geringer Disharmonie mit dem
gesetzlich anerkannten (ich sage nicht mit dem praktisch geübten) Staatsrechte steht.

So viel auch noch für die Ausbildung und Gestaltung der allgemeinen
constitutionellen Formen zu wünschen übrig bleibt, und so gering auch das Maß
der staatsbürgerlichen Theilnahme an den allgemeinen politischen Functionen
ist, so wird dennoch die Gemeindefreiheit noch ziemlich weit davon entfernt,
ihrerseits diesem Maße zu entsprechen. Das erste und unumgänglichste Erfor-
derniß gesunder politischer Gestaltung ist recht mangelhaft erfüllt: die Ueber¬
einstimmung zwischen dem allgemeinen Staatsrecht und dem Gemeinderecht
ist noch nicht hergestellt. In den beiden Gebieten des öffentlichen Lebens ist
noch wenig Einheit des Princips anzutreffen. Wahrend das Staatsleben von
dem Geiste der Emancipation und der allmäligen Beschränkung des Staats¬
absolutismus bereits durchdrungen ist. wird die Regelung- des Gemeindelebens
noch vorwiegend vom Princip der Bevormundung beherrscht.

Glücklicherweise ist gegenwärtig die Theorie und die herrschende Gesinnung
dem thatsächlich bestehenden Gemeinderecht in einer ähnlichen Weise voraus,
als es die politische Praxis unter den Händen Steins den damaligen Zeitideen
war. Schlimme »Erfahrungen, unter denen die neueste Gestaltung des Consti-
tutionalismus in Preußen nicht die einzige ist, haben die Ueberzeugung befestigt,
daß es an der Zeit sei, gleichsam Cellularpathologie zu treiben und die letzten
Ursachen der krankhaften Entartungen des Verfassungslebens in den kleinen
natürlichen Einheiten des politischen und socialen Daseins zu suchen. Diese
Ueberzeugung ist durch theoretische Studien an der Geschichte fremder Staats¬
körper und selbst durch romantische Vertiefung in die einstige Blüthe deut¬
schen Städtethums gefördert worden. Das englische Selfgovernment ist zum
Schlagwort geworden, und so wenig es auch in der Breite der politischen
Bildung seinem historischen und thatsächlichen Sinne gemäß verstanden werden
mag, so übt doch schon das Wort „Selbstregierung" einen nicht zu unterschätzen¬
den Zauber aus. Vielleicht grade weil man das Detail der englischen Zustände
und den unläugbaren Verfall derselben nicht kennt, vielleicht grade weil man


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[0428] Die politische Praxis Steins war den theoretischen Einsichten anderthalb Men¬ schenalter vorausgeeilt. Nach Beseitigung des Uebels, durch welches die Reform hervorgerufen worden war, machte sich auch wieder die alte Neigung der Restaura¬ tionen geltend. Nicht einmal die Zeit von Achtundvierzig, welche doch die all¬ gemeine Ordnung so ernstlich berührte, vermochte nachhaltig auf die städtische Freiheit zu wirken. Man kann getrost behaupten, daß die preußische Gesetzgebung rück¬ sichtlich des Städtewesens noch nicht einmal dem Geist der Steinschen Reformen gerecht wurde. Der auf die achtundvierziger Ereignisse folgende Rückschlag hat die Gemeindeangelegenheiten noch weit mehr als die staatsbürgerliche Freiheit dem restaurativen Geiste überliefert, so daß wir uns jetzt in einem Zustande befinden, in welchem das Gemeinderecht in nicht geringer Disharmonie mit dem gesetzlich anerkannten (ich sage nicht mit dem praktisch geübten) Staatsrechte steht. So viel auch noch für die Ausbildung und Gestaltung der allgemeinen constitutionellen Formen zu wünschen übrig bleibt, und so gering auch das Maß der staatsbürgerlichen Theilnahme an den allgemeinen politischen Functionen ist, so wird dennoch die Gemeindefreiheit noch ziemlich weit davon entfernt, ihrerseits diesem Maße zu entsprechen. Das erste und unumgänglichste Erfor- derniß gesunder politischer Gestaltung ist recht mangelhaft erfüllt: die Ueber¬ einstimmung zwischen dem allgemeinen Staatsrecht und dem Gemeinderecht ist noch nicht hergestellt. In den beiden Gebieten des öffentlichen Lebens ist noch wenig Einheit des Princips anzutreffen. Wahrend das Staatsleben von dem Geiste der Emancipation und der allmäligen Beschränkung des Staats¬ absolutismus bereits durchdrungen ist. wird die Regelung- des Gemeindelebens noch vorwiegend vom Princip der Bevormundung beherrscht. Glücklicherweise ist gegenwärtig die Theorie und die herrschende Gesinnung dem thatsächlich bestehenden Gemeinderecht in einer ähnlichen Weise voraus, als es die politische Praxis unter den Händen Steins den damaligen Zeitideen war. Schlimme »Erfahrungen, unter denen die neueste Gestaltung des Consti- tutionalismus in Preußen nicht die einzige ist, haben die Ueberzeugung befestigt, daß es an der Zeit sei, gleichsam Cellularpathologie zu treiben und die letzten Ursachen der krankhaften Entartungen des Verfassungslebens in den kleinen natürlichen Einheiten des politischen und socialen Daseins zu suchen. Diese Ueberzeugung ist durch theoretische Studien an der Geschichte fremder Staats¬ körper und selbst durch romantische Vertiefung in die einstige Blüthe deut¬ schen Städtethums gefördert worden. Das englische Selfgovernment ist zum Schlagwort geworden, und so wenig es auch in der Breite der politischen Bildung seinem historischen und thatsächlichen Sinne gemäß verstanden werden mag, so übt doch schon das Wort „Selbstregierung" einen nicht zu unterschätzen¬ den Zauber aus. Vielleicht grade weil man das Detail der englischen Zustände und den unläugbaren Verfall derselben nicht kennt, vielleicht grade weil man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/428>, abgerufen am 16.05.2024.