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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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Sachsen heute vor fünfzig Jahren.

Wir schreiben den 7. Juni 181S, befinden uns in Dresden zwischen
Kammerdieners und Hofgärtners und bemühen uns, die Welt auf eine Stunde
mit den Augen Hasches, des Chronisten dieser schönen und loyalen Stadt, an¬
zusehen, den wir uns zum Begleiter gewählt haben. Sollte unser Bemühen,
wie wir fürchten, nicht ganz gelingen, so bitten wir artig, den guten Willen
für die That zu nehmen und de>s Wortes eingedenk zu sein, daß die Zeiten sich
ändern und wir mit ihnen verändert werden.

Ein großer Tag für den sächsischen Patriotismus, vornehmlich für den
allhier wohnhaften! "Was treue Herzen flehn, steigt zu des Himmels Höhn",
wie unser Mahlmann, selbst im Reim ein echt sächsisches Gemüth, mit Schwung
und Gefühl uns vorsingt. Die "ewige Gerechtigkeit" seines Liedes hat das
Flehen der treuen Herzen gehört und bewilligt, wenn auch mit erheblichen
Modificationen. nach denen mindestens zu zweifeln erlaubt scheint, ob es ganz
begründet gewesen. Sachsen wird getheilt, der Norden fällt an Preußen, aber
der Rest wird heute seinen alten König wiederbekommen. Das Provisorium
>se glücklich überstanden. Die Glocken läuten den Morgen einer neuen Epoche
u", und unter Posaunenschall singen vom Thurme die Kreuzschüler ihr "Nun
danket alle Gott" auf den vom Frühroth bestrahlten Altmarkt hinab.

Schon gestern war die Stadt ungewöhnlich bewegt. An den Ecken An¬
schläge des Stadtraths, welche bestimmten, in welcher Ordnung der erwartete
Landesvater von der Einwohnerschaft eingeholt werden soll, und die als "Losung"
des Festes "ehrfurchtsvolle Bescheidenheit, innige Herzlichkeit und treue Liebe"
bezeichneten -- Bescheidenheit, als ob irgendein Dresdner im Laufe der letzten
hundert Jahre jemals fähig gewesen wäre, die Tugend der Bescheidenheit aus
den Augen zu setzen. Auf den Gassen, eilige Gärtner mit Kränzen und Guir¬
landen, Waschfrauen mit kunstgerecht gesteifter, sorgfältig geplätteten weißen
Kleidern überm Arm, und hier und da, besonders auf der Brücke, der drusi-
schen Terrasse und vor dem goldnen August am Blockhause, Trupps von leipziger
Musensöhnen, die der sächsische Patriotismus in Masse hergeführt hat, und die
mit ihren Kanonenstiefeln und Schnurenjacken, ihren dickbetroddelten Tabaks¬
pfeifen, ihren Schlägern und Ziegenhainern so übermüthig in der sanften Ge¬
wöhnlichkeit drcsdnerischen Lebens einherschritten, daß die unmaßgebliche Ver-


Grcnzboten II. I8dis. 61
Sachsen heute vor fünfzig Jahren.

Wir schreiben den 7. Juni 181S, befinden uns in Dresden zwischen
Kammerdieners und Hofgärtners und bemühen uns, die Welt auf eine Stunde
mit den Augen Hasches, des Chronisten dieser schönen und loyalen Stadt, an¬
zusehen, den wir uns zum Begleiter gewählt haben. Sollte unser Bemühen,
wie wir fürchten, nicht ganz gelingen, so bitten wir artig, den guten Willen
für die That zu nehmen und de>s Wortes eingedenk zu sein, daß die Zeiten sich
ändern und wir mit ihnen verändert werden.

Ein großer Tag für den sächsischen Patriotismus, vornehmlich für den
allhier wohnhaften! „Was treue Herzen flehn, steigt zu des Himmels Höhn",
wie unser Mahlmann, selbst im Reim ein echt sächsisches Gemüth, mit Schwung
und Gefühl uns vorsingt. Die „ewige Gerechtigkeit" seines Liedes hat das
Flehen der treuen Herzen gehört und bewilligt, wenn auch mit erheblichen
Modificationen. nach denen mindestens zu zweifeln erlaubt scheint, ob es ganz
begründet gewesen. Sachsen wird getheilt, der Norden fällt an Preußen, aber
der Rest wird heute seinen alten König wiederbekommen. Das Provisorium
>se glücklich überstanden. Die Glocken läuten den Morgen einer neuen Epoche
u», und unter Posaunenschall singen vom Thurme die Kreuzschüler ihr „Nun
danket alle Gott" auf den vom Frühroth bestrahlten Altmarkt hinab.

Schon gestern war die Stadt ungewöhnlich bewegt. An den Ecken An¬
schläge des Stadtraths, welche bestimmten, in welcher Ordnung der erwartete
Landesvater von der Einwohnerschaft eingeholt werden soll, und die als „Losung"
des Festes „ehrfurchtsvolle Bescheidenheit, innige Herzlichkeit und treue Liebe"
bezeichneten — Bescheidenheit, als ob irgendein Dresdner im Laufe der letzten
hundert Jahre jemals fähig gewesen wäre, die Tugend der Bescheidenheit aus
den Augen zu setzen. Auf den Gassen, eilige Gärtner mit Kränzen und Guir¬
landen, Waschfrauen mit kunstgerecht gesteifter, sorgfältig geplätteten weißen
Kleidern überm Arm, und hier und da, besonders auf der Brücke, der drusi-
schen Terrasse und vor dem goldnen August am Blockhause, Trupps von leipziger
Musensöhnen, die der sächsische Patriotismus in Masse hergeführt hat, und die
mit ihren Kanonenstiefeln und Schnurenjacken, ihren dickbetroddelten Tabaks¬
pfeifen, ihren Schlägern und Ziegenhainern so übermüthig in der sanften Ge¬
wöhnlichkeit drcsdnerischen Lebens einherschritten, daß die unmaßgebliche Ver-


Grcnzboten II. I8dis. 61
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[0427] Sachsen heute vor fünfzig Jahren. Wir schreiben den 7. Juni 181S, befinden uns in Dresden zwischen Kammerdieners und Hofgärtners und bemühen uns, die Welt auf eine Stunde mit den Augen Hasches, des Chronisten dieser schönen und loyalen Stadt, an¬ zusehen, den wir uns zum Begleiter gewählt haben. Sollte unser Bemühen, wie wir fürchten, nicht ganz gelingen, so bitten wir artig, den guten Willen für die That zu nehmen und de>s Wortes eingedenk zu sein, daß die Zeiten sich ändern und wir mit ihnen verändert werden. Ein großer Tag für den sächsischen Patriotismus, vornehmlich für den allhier wohnhaften! „Was treue Herzen flehn, steigt zu des Himmels Höhn", wie unser Mahlmann, selbst im Reim ein echt sächsisches Gemüth, mit Schwung und Gefühl uns vorsingt. Die „ewige Gerechtigkeit" seines Liedes hat das Flehen der treuen Herzen gehört und bewilligt, wenn auch mit erheblichen Modificationen. nach denen mindestens zu zweifeln erlaubt scheint, ob es ganz begründet gewesen. Sachsen wird getheilt, der Norden fällt an Preußen, aber der Rest wird heute seinen alten König wiederbekommen. Das Provisorium >se glücklich überstanden. Die Glocken läuten den Morgen einer neuen Epoche u», und unter Posaunenschall singen vom Thurme die Kreuzschüler ihr „Nun danket alle Gott" auf den vom Frühroth bestrahlten Altmarkt hinab. Schon gestern war die Stadt ungewöhnlich bewegt. An den Ecken An¬ schläge des Stadtraths, welche bestimmten, in welcher Ordnung der erwartete Landesvater von der Einwohnerschaft eingeholt werden soll, und die als „Losung" des Festes „ehrfurchtsvolle Bescheidenheit, innige Herzlichkeit und treue Liebe" bezeichneten — Bescheidenheit, als ob irgendein Dresdner im Laufe der letzten hundert Jahre jemals fähig gewesen wäre, die Tugend der Bescheidenheit aus den Augen zu setzen. Auf den Gassen, eilige Gärtner mit Kränzen und Guir¬ landen, Waschfrauen mit kunstgerecht gesteifter, sorgfältig geplätteten weißen Kleidern überm Arm, und hier und da, besonders auf der Brücke, der drusi- schen Terrasse und vor dem goldnen August am Blockhause, Trupps von leipziger Musensöhnen, die der sächsische Patriotismus in Masse hergeführt hat, und die mit ihren Kanonenstiefeln und Schnurenjacken, ihren dickbetroddelten Tabaks¬ pfeifen, ihren Schlägern und Ziegenhainern so übermüthig in der sanften Ge¬ wöhnlichkeit drcsdnerischen Lebens einherschritten, daß die unmaßgebliche Ver- Grcnzboten II. I8dis. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/427>, abgerufen am 26.05.2024.