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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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Die deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger.

An eine neue nationale Anstalt knüpft sich in Deutschland stets ein dop¬
peltes Interesse: sich Glück zu wünschen, daß die die Nation umschlingenden
Bande um eines zunehmen, und zu beobachten, auf welche Weise dieses neue
Band inmitten aller Hemmungen der Kleinstaaten zu Stande gekommen ist.
Es wird daher wohl der Mühe verlohnen, die Entstehungsgeschichte der am
29. Mai zu Kiel ins Leben gerufenen deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiff¬
brüchiger hier im Ueberblick vorzuführen.

Anstalten zur Rettung Schiffbrüchiger sind in England seit 1824, in Däne-
Mark seit 1831 getroffen worden, und Nordamerika kennt sie ebenfalls schon
lange. So civilisirte Länder dagegen wie Frankreich und Deutschland treten
erst jetzt eigentlich in diese Culturarbeit ein, wenigstens insofern man dabei von
vereinzelten und halb verborgen gebliebenen Unternehmungen absieht. Dies ist
kein Zufall. Völker, welche in solchem Grade wie Engländer und Dänen aus
die See hingewiesen sind und am Seeverkehr theilnehmen, überwinden rascher
als andere das Hinderniß, welches in der alten barbarischen Gewöhnung der
Küstenbewohner an die Uebung des Strandrechts steckt. Es ist bekanntlich noch
lange keine hundert Jahre her, daß in Kirchen am Meeresstrand allsonntäglich
von der Kanzel herab gebetet wurde: "Gott segne den Strand!" Die An¬
schauung, daß ein gescheitertes Schiff eine Beute sei, welche Gott seinen Kin¬
dern an der Küste schicke, herrschte in den Gemüthern der Strandbevölkerung
so unbedingt, daß selbst die philanthropischen Lehren der Religion sich ihr an¬
bequemen mußten. Daß aus ihr eine gewisse Abneigung hervorgehen mußte,
auch nur der schiffbrüchigen Mannschaft eine rettende Hand entgegenzustrecken,
versteht sich von selbst. Die Geretteten konnten ja einen störenden Anspruch
auf die Ladung und die Trümmer des Schiffes erheben, welche man bereits
als sein wohlverdientes Eigenthum betrachtete; selbst im besten Falle mußte
wan doch aus dem gewonnenen Gut ihre Blöße bedecken und ihren Hunger
stillen. Vergegenwärtigen wir uns hierzu den wetterhartcn, nichts weniger als
sentimentalen Sinn, den naturgemäßen Fatalismus eines dem Meere zugewandten
Volkes, so begreift sich leicht, daß Schiffbrüchige ihren eigenen Kräften aus-


Grenzboten it. 186S. 66
Die deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger.

An eine neue nationale Anstalt knüpft sich in Deutschland stets ein dop¬
peltes Interesse: sich Glück zu wünschen, daß die die Nation umschlingenden
Bande um eines zunehmen, und zu beobachten, auf welche Weise dieses neue
Band inmitten aller Hemmungen der Kleinstaaten zu Stande gekommen ist.
Es wird daher wohl der Mühe verlohnen, die Entstehungsgeschichte der am
29. Mai zu Kiel ins Leben gerufenen deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiff¬
brüchiger hier im Ueberblick vorzuführen.

Anstalten zur Rettung Schiffbrüchiger sind in England seit 1824, in Däne-
Mark seit 1831 getroffen worden, und Nordamerika kennt sie ebenfalls schon
lange. So civilisirte Länder dagegen wie Frankreich und Deutschland treten
erst jetzt eigentlich in diese Culturarbeit ein, wenigstens insofern man dabei von
vereinzelten und halb verborgen gebliebenen Unternehmungen absieht. Dies ist
kein Zufall. Völker, welche in solchem Grade wie Engländer und Dänen aus
die See hingewiesen sind und am Seeverkehr theilnehmen, überwinden rascher
als andere das Hinderniß, welches in der alten barbarischen Gewöhnung der
Küstenbewohner an die Uebung des Strandrechts steckt. Es ist bekanntlich noch
lange keine hundert Jahre her, daß in Kirchen am Meeresstrand allsonntäglich
von der Kanzel herab gebetet wurde: „Gott segne den Strand!" Die An¬
schauung, daß ein gescheitertes Schiff eine Beute sei, welche Gott seinen Kin¬
dern an der Küste schicke, herrschte in den Gemüthern der Strandbevölkerung
so unbedingt, daß selbst die philanthropischen Lehren der Religion sich ihr an¬
bequemen mußten. Daß aus ihr eine gewisse Abneigung hervorgehen mußte,
auch nur der schiffbrüchigen Mannschaft eine rettende Hand entgegenzustrecken,
versteht sich von selbst. Die Geretteten konnten ja einen störenden Anspruch
auf die Ladung und die Trümmer des Schiffes erheben, welche man bereits
als sein wohlverdientes Eigenthum betrachtete; selbst im besten Falle mußte
wan doch aus dem gewonnenen Gut ihre Blöße bedecken und ihren Hunger
stillen. Vergegenwärtigen wir uns hierzu den wetterhartcn, nichts weniger als
sentimentalen Sinn, den naturgemäßen Fatalismus eines dem Meere zugewandten
Volkes, so begreift sich leicht, daß Schiffbrüchige ihren eigenen Kräften aus-


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[0469] Die deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. An eine neue nationale Anstalt knüpft sich in Deutschland stets ein dop¬ peltes Interesse: sich Glück zu wünschen, daß die die Nation umschlingenden Bande um eines zunehmen, und zu beobachten, auf welche Weise dieses neue Band inmitten aller Hemmungen der Kleinstaaten zu Stande gekommen ist. Es wird daher wohl der Mühe verlohnen, die Entstehungsgeschichte der am 29. Mai zu Kiel ins Leben gerufenen deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiff¬ brüchiger hier im Ueberblick vorzuführen. Anstalten zur Rettung Schiffbrüchiger sind in England seit 1824, in Däne- Mark seit 1831 getroffen worden, und Nordamerika kennt sie ebenfalls schon lange. So civilisirte Länder dagegen wie Frankreich und Deutschland treten erst jetzt eigentlich in diese Culturarbeit ein, wenigstens insofern man dabei von vereinzelten und halb verborgen gebliebenen Unternehmungen absieht. Dies ist kein Zufall. Völker, welche in solchem Grade wie Engländer und Dänen aus die See hingewiesen sind und am Seeverkehr theilnehmen, überwinden rascher als andere das Hinderniß, welches in der alten barbarischen Gewöhnung der Küstenbewohner an die Uebung des Strandrechts steckt. Es ist bekanntlich noch lange keine hundert Jahre her, daß in Kirchen am Meeresstrand allsonntäglich von der Kanzel herab gebetet wurde: „Gott segne den Strand!" Die An¬ schauung, daß ein gescheitertes Schiff eine Beute sei, welche Gott seinen Kin¬ dern an der Küste schicke, herrschte in den Gemüthern der Strandbevölkerung so unbedingt, daß selbst die philanthropischen Lehren der Religion sich ihr an¬ bequemen mußten. Daß aus ihr eine gewisse Abneigung hervorgehen mußte, auch nur der schiffbrüchigen Mannschaft eine rettende Hand entgegenzustrecken, versteht sich von selbst. Die Geretteten konnten ja einen störenden Anspruch auf die Ladung und die Trümmer des Schiffes erheben, welche man bereits als sein wohlverdientes Eigenthum betrachtete; selbst im besten Falle mußte wan doch aus dem gewonnenen Gut ihre Blöße bedecken und ihren Hunger stillen. Vergegenwärtigen wir uns hierzu den wetterhartcn, nichts weniger als sentimentalen Sinn, den naturgemäßen Fatalismus eines dem Meere zugewandten Volkes, so begreift sich leicht, daß Schiffbrüchige ihren eigenen Kräften aus- Grenzboten it. 186S. 66

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/469>, abgerufen am 26.05.2024.