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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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schließlich überlassen blieben, ja daß sie noch von Glück sagen konnten, wenn
ihre Mitmenschen am Ufer sich nicht geradezu mit Wind und Wellen zu ihrem
Untergang verbündeten. Dieser Zustand dauerte auf dem Continente von
Europa durchschnittlich wohl allenthalben bis in den Anfang dieses Jahrhunderts
hinein. Ja, völlig überwunden muß er noch in diesem Augenblick nicht sein;
denn ganz neuerdings hat der Landvogt der schleswigschen Insel Sylt eine
ältere Verordnung wieder in Kraft gesetzt, welche den Bewohnern bei Sturm
verbietet, den Strand zu betreten, und zwar lediglich weil es vorgekommen ist,
daß sie herannahende Schiffe durch eine Laterne, die sie einem Pferde unter den
Bauch banden, zu täuschen und ins Verderben zu locken suchten. Die Insel Sylt ist
eine Wiege zahlreicher Seefahrer; wenn sogar auf ihr das Strandrecht noch halb
und halb in der Volksanschauung wurzelt, was kann man von anderen Küsten¬
gegenden erwarten? Aber freilich ist die Insel Sylt auch gleich ihren Nachbar¬
inseln eine abgeschlossene kleine Welt für sich, wenig ausgesetzt der öffentlichen
Meinung einer großen und gebildeten Nation. Wo eine solche sich dem See¬
leben thätig zuwendet, da drängt sie bald die gewissenlose Beraubung und
fahrlässige Tödtung Schiffbrüchiger aus der Wirklichkeit in die Herzen der Ein¬
zelnen zurück, um sie mit der Zeit auch aus dieser letzten Zufluchtsstätte der
Barbarei zu vertreiben. Das ist bei Engländern und Dänen bereits seit Jahren
geschehen-, das vollzieht sich nun auch in Deutschland.

In Deutschland stellen sich dem Uebergang vom Strandrecht zur planvollen
Rettung Schiffbrüchiger jedoch Schwierigkeiten in den Weg, von denen die
übrigen civilisirten Nationen nichts wissen. Wir können nicht erwarten, daß
unter uns, wie in Dänemark, der Staat die Herstellung der Nettungsanstalten
übernehme -- denn unsre Seeküste ist unter ein halbes Dutzend Staaten ge¬
theilt, deren keiner infolge dessen ein recht lebhaftes Gefühl seiner Verantwort¬
lichkeit für die Sicherheit des Fahrwassers besitzt. Es müßte daneben auch
ungleich schwieriger in Deutschland sein, als es in England gewesen ist, die
freien Kräfte der Nation für eine befriedigende Organisation des Rettungswesens
aufzuwecken, zu sammeln und dauernd zu verbinden.

Das Verhalten der deutschen Regierungen in der Angelegenheit der An¬
stalten zur Rettung Schiffbrüchiger ist in hohem Grade charakteristisch. Niemals
hat eine einzige derselben irgendeinen öffentlichen Schritt gethan. Bis ganz
vor kurzem wußten selbst die Sachkundigen nicht, daß es überhaupt Rettungs¬
boote und Raketenapparate der Regierungen gebe. Dann entdeckte Einer von
ihnen, Gott weiß wie, daß Preußen in Besitz von fünf Rettungsstationen sei.
Er veröffentlichte seine Entdeckung. Er wurde nicht berichtigt; aber kurze Zeit
darauf konnte er selbst mittheilen, daß er sich geirrt habe, und daß der officiellen
preußischen Rettungsstationen nicht weniger als neunzehn seien. Der Mann,
der solche Mühe hatte den wahren Thatbestand zu ermitteln, war kein Hanseat


schließlich überlassen blieben, ja daß sie noch von Glück sagen konnten, wenn
ihre Mitmenschen am Ufer sich nicht geradezu mit Wind und Wellen zu ihrem
Untergang verbündeten. Dieser Zustand dauerte auf dem Continente von
Europa durchschnittlich wohl allenthalben bis in den Anfang dieses Jahrhunderts
hinein. Ja, völlig überwunden muß er noch in diesem Augenblick nicht sein;
denn ganz neuerdings hat der Landvogt der schleswigschen Insel Sylt eine
ältere Verordnung wieder in Kraft gesetzt, welche den Bewohnern bei Sturm
verbietet, den Strand zu betreten, und zwar lediglich weil es vorgekommen ist,
daß sie herannahende Schiffe durch eine Laterne, die sie einem Pferde unter den
Bauch banden, zu täuschen und ins Verderben zu locken suchten. Die Insel Sylt ist
eine Wiege zahlreicher Seefahrer; wenn sogar auf ihr das Strandrecht noch halb
und halb in der Volksanschauung wurzelt, was kann man von anderen Küsten¬
gegenden erwarten? Aber freilich ist die Insel Sylt auch gleich ihren Nachbar¬
inseln eine abgeschlossene kleine Welt für sich, wenig ausgesetzt der öffentlichen
Meinung einer großen und gebildeten Nation. Wo eine solche sich dem See¬
leben thätig zuwendet, da drängt sie bald die gewissenlose Beraubung und
fahrlässige Tödtung Schiffbrüchiger aus der Wirklichkeit in die Herzen der Ein¬
zelnen zurück, um sie mit der Zeit auch aus dieser letzten Zufluchtsstätte der
Barbarei zu vertreiben. Das ist bei Engländern und Dänen bereits seit Jahren
geschehen-, das vollzieht sich nun auch in Deutschland.

In Deutschland stellen sich dem Uebergang vom Strandrecht zur planvollen
Rettung Schiffbrüchiger jedoch Schwierigkeiten in den Weg, von denen die
übrigen civilisirten Nationen nichts wissen. Wir können nicht erwarten, daß
unter uns, wie in Dänemark, der Staat die Herstellung der Nettungsanstalten
übernehme — denn unsre Seeküste ist unter ein halbes Dutzend Staaten ge¬
theilt, deren keiner infolge dessen ein recht lebhaftes Gefühl seiner Verantwort¬
lichkeit für die Sicherheit des Fahrwassers besitzt. Es müßte daneben auch
ungleich schwieriger in Deutschland sein, als es in England gewesen ist, die
freien Kräfte der Nation für eine befriedigende Organisation des Rettungswesens
aufzuwecken, zu sammeln und dauernd zu verbinden.

Das Verhalten der deutschen Regierungen in der Angelegenheit der An¬
stalten zur Rettung Schiffbrüchiger ist in hohem Grade charakteristisch. Niemals
hat eine einzige derselben irgendeinen öffentlichen Schritt gethan. Bis ganz
vor kurzem wußten selbst die Sachkundigen nicht, daß es überhaupt Rettungs¬
boote und Raketenapparate der Regierungen gebe. Dann entdeckte Einer von
ihnen, Gott weiß wie, daß Preußen in Besitz von fünf Rettungsstationen sei.
Er veröffentlichte seine Entdeckung. Er wurde nicht berichtigt; aber kurze Zeit
darauf konnte er selbst mittheilen, daß er sich geirrt habe, und daß der officiellen
preußischen Rettungsstationen nicht weniger als neunzehn seien. Der Mann,
der solche Mühe hatte den wahren Thatbestand zu ermitteln, war kein Hanseat


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/470>, abgerufen am 17.06.2024.