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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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Erinnerungen an Friedrich Nnrkert.s)
i.

So lange der große Dichter unter den Lebenden wandelte, ist seine Gestalt
nur von wenigen geschaut worden. Ihnen ist ein unauslöschlicher Eindruck
geblieben, denn auch eine flüchtige Begegnung mußte jeden überwältigen, selbst
dann, wenn er keine Ahnung hatte, welcher Geist in diesem Leibe wohnte. Es
gehörte auch bei längerer und innigster Beziehung schon eine gewisse reflectirte
Selbstüberwindung dazu, um sich in seiner Gegenwart so zu sagen als Seines¬
gleichen zu fühlen und auf menschlich-unbefangenem Fuße mit ihm zu ver¬
kehren. Leicht erregbare und für Schönheit und Adel der Form empfänglichere
Naturen, als man sie unter unsern Landsleuten zu finden Pflegt, aber wohl
unter den Menschen eines glücklicheren Himmelsstriches z. B. unter den ge¬
wöhnlichen Italienern findet, sind durch eine solche Erscheinung mächtig erregt
worden, wovon noch allerlei wundersame Anekdoten cursiren, darunter auch
einige, die nichts Mythisches, sondern urkundliche Thatsachen enthalten. Hier in
unserm Vaterlande kam es wohl öfters vor, daß sich irgendeiner mit dem
Vorsatz streng kritischer Schau und Prüfung an den Dichter hinandrängte, aber
in dem Moment, wo der zu kühlster Objectivität gerüstete Beobachter der Ge¬
stalt des Mannes in ihrer ganzen Weihe und Hoheit gegenübertrat, Pflegte es
mit der Nüchternheit des kritischen Selbstbewußtseins zu Ende zu sein. Sie
stellte sich gewöhnlich erst wieder ein, wenn sich die Thüre hinter dem Gaste
geschlossen, und dieser mußte sich eigentlich, wenn er ehrlich hätte sein wollen,
gestehen, daß er nichts gesehen hatte. Galt es aber dennoch den Besuch lite¬
rarisch zu verwerthen, so blieb nichts übrig, als das Phantasiebild, mit welchem
der Fremde herangekommen war, zur Grundlage der Schilderung zu machen
und mit einigen in halbem Nebel aufgegriffenen Zügen der Wirklichkeit aus-
zustaffiren. Daraus sind denn freilich seltsame Producte geworden, die jeden



") Auf Ersuchen der Redaction von einer Hand geschrieben, die dem Dichter im Leben
sehr nahe stand.
Grenzvoten II. 18V6. 1
Erinnerungen an Friedrich Nnrkert.s)
i.

So lange der große Dichter unter den Lebenden wandelte, ist seine Gestalt
nur von wenigen geschaut worden. Ihnen ist ein unauslöschlicher Eindruck
geblieben, denn auch eine flüchtige Begegnung mußte jeden überwältigen, selbst
dann, wenn er keine Ahnung hatte, welcher Geist in diesem Leibe wohnte. Es
gehörte auch bei längerer und innigster Beziehung schon eine gewisse reflectirte
Selbstüberwindung dazu, um sich in seiner Gegenwart so zu sagen als Seines¬
gleichen zu fühlen und auf menschlich-unbefangenem Fuße mit ihm zu ver¬
kehren. Leicht erregbare und für Schönheit und Adel der Form empfänglichere
Naturen, als man sie unter unsern Landsleuten zu finden Pflegt, aber wohl
unter den Menschen eines glücklicheren Himmelsstriches z. B. unter den ge¬
wöhnlichen Italienern findet, sind durch eine solche Erscheinung mächtig erregt
worden, wovon noch allerlei wundersame Anekdoten cursiren, darunter auch
einige, die nichts Mythisches, sondern urkundliche Thatsachen enthalten. Hier in
unserm Vaterlande kam es wohl öfters vor, daß sich irgendeiner mit dem
Vorsatz streng kritischer Schau und Prüfung an den Dichter hinandrängte, aber
in dem Moment, wo der zu kühlster Objectivität gerüstete Beobachter der Ge¬
stalt des Mannes in ihrer ganzen Weihe und Hoheit gegenübertrat, Pflegte es
mit der Nüchternheit des kritischen Selbstbewußtseins zu Ende zu sein. Sie
stellte sich gewöhnlich erst wieder ein, wenn sich die Thüre hinter dem Gaste
geschlossen, und dieser mußte sich eigentlich, wenn er ehrlich hätte sein wollen,
gestehen, daß er nichts gesehen hatte. Galt es aber dennoch den Besuch lite¬
rarisch zu verwerthen, so blieb nichts übrig, als das Phantasiebild, mit welchem
der Fremde herangekommen war, zur Grundlage der Schilderung zu machen
und mit einigen in halbem Nebel aufgegriffenen Zügen der Wirklichkeit aus-
zustaffiren. Daraus sind denn freilich seltsame Producte geworden, die jeden



») Auf Ersuchen der Redaction von einer Hand geschrieben, die dem Dichter im Leben
sehr nahe stand.
Grenzvoten II. 18V6. 1
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[0011] Erinnerungen an Friedrich Nnrkert.s) i. So lange der große Dichter unter den Lebenden wandelte, ist seine Gestalt nur von wenigen geschaut worden. Ihnen ist ein unauslöschlicher Eindruck geblieben, denn auch eine flüchtige Begegnung mußte jeden überwältigen, selbst dann, wenn er keine Ahnung hatte, welcher Geist in diesem Leibe wohnte. Es gehörte auch bei längerer und innigster Beziehung schon eine gewisse reflectirte Selbstüberwindung dazu, um sich in seiner Gegenwart so zu sagen als Seines¬ gleichen zu fühlen und auf menschlich-unbefangenem Fuße mit ihm zu ver¬ kehren. Leicht erregbare und für Schönheit und Adel der Form empfänglichere Naturen, als man sie unter unsern Landsleuten zu finden Pflegt, aber wohl unter den Menschen eines glücklicheren Himmelsstriches z. B. unter den ge¬ wöhnlichen Italienern findet, sind durch eine solche Erscheinung mächtig erregt worden, wovon noch allerlei wundersame Anekdoten cursiren, darunter auch einige, die nichts Mythisches, sondern urkundliche Thatsachen enthalten. Hier in unserm Vaterlande kam es wohl öfters vor, daß sich irgendeiner mit dem Vorsatz streng kritischer Schau und Prüfung an den Dichter hinandrängte, aber in dem Moment, wo der zu kühlster Objectivität gerüstete Beobachter der Ge¬ stalt des Mannes in ihrer ganzen Weihe und Hoheit gegenübertrat, Pflegte es mit der Nüchternheit des kritischen Selbstbewußtseins zu Ende zu sein. Sie stellte sich gewöhnlich erst wieder ein, wenn sich die Thüre hinter dem Gaste geschlossen, und dieser mußte sich eigentlich, wenn er ehrlich hätte sein wollen, gestehen, daß er nichts gesehen hatte. Galt es aber dennoch den Besuch lite¬ rarisch zu verwerthen, so blieb nichts übrig, als das Phantasiebild, mit welchem der Fremde herangekommen war, zur Grundlage der Schilderung zu machen und mit einigen in halbem Nebel aufgegriffenen Zügen der Wirklichkeit aus- zustaffiren. Daraus sind denn freilich seltsame Producte geworden, die jeden ») Auf Ersuchen der Redaction von einer Hand geschrieben, die dem Dichter im Leben sehr nahe stand. Grenzvoten II. 18V6. 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/11>, abgerufen am 29.04.2024.