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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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Die Stellung der Römer in den Staaten der Völker¬
wanderung.

Einem großen Theile der Gebildeten, auch denjenigen, welche ein vorzüg¬
licheres Interesse für die Geschichte der Menschheit hegen, erscheint die Zeit der
Völkerwanderung wie ein ungeheurer Abgrund, angefüllt von verwirrtem Ge-
trümmer. den traurigen Resten der Schöpfungen, in welchen der antike Geist
seinen Ausdruck gefunden und seine Entwickelung vollzogen hatte.

Auch die vereinzelten Heldengestalten, die sich in gewaltiger Frische über
die dunkelgährenden Massen erheben, vermögen wir nicht mit ungetrübter Freude
zu bewundern, sie erinnern uns zu sehr an die Fülle von Leben, die hier unter¬
ging, theilweise grade durch sie zertrümmert ward.

Jenseits dieser Kluft ragt das römische Imperium großartig durch die Massen,
die es ordnend bewältigt. Diesseits erhebt sich ein neues Staatensystem, eine
Fülle von Bildungen, welche fast zusammenhangslos mit der hinter ihr liegenden
Welt als neue Anfänge dazustehn scheinen. Leicht freilich überredet man sich,
daß dem nicht so sei; a priori schon sind wir überzeugt, daß zu dem Gebäude
der neuen Welt mancher Baustein aus den Ruinen der alten verwerthet ward,
und einige derselben werden auch von dem flüchtigen Beschauer leicht erkannt.
Aber dennoch glauben Viele, dies Gebiet denen überlassen zu dürfen, welche
ihre Neigung grade zu möglichst unergiebigen, hoffnungslosen Aufgaben führt;
sei es um dort für ihren Scharfsinn würdige Aufgaben oder für ihre Träumereien
und vagen Combinationen ein Feld zu finden, das in dem verwirrten Gezweig
Widersprechender Nachrichten, in den dunkeln Tiefen zusammenhanglos überlieferter
Thatsachen, den weiten Oeden gänzlichen Schweigens unterrichteter Zeugen,
Verstecke genug bietet, die vor jeder Controle sicher stellen.

Zum Glück ist dem doch nicht ganz so. Wenn unsere Quellen auch spär¬
lich fließen, so schöpfen wir aus ihnen doch manche sichere Kunde, welche uns
den Entwickelungsgang erkennen läßt, den jene gewaltige Zeit genommen. Bei
einfach vorurtheilsfreier Erwägung wird sich mancher Knoten lösen, mancher
Irrthum einer bessern Erkenntniß weichen. Und wahrlich es ist der Mühe
werth, diesen Versuch zu wagen. denn in dieser Periode liegen die Keime des
politischen wie des geistigen Lebens der modernen Völker, hier wurzelt ihre
Sprache und Poesie, ihre Religion, ihr Staat, die jetzt alle mächtigen Bäumen
gleichen, von denen schon manche Generation reife Früchte brach, und auf deren
frische Lebenskraft wir für uns und eine ferne Zukunft die schönste Hoffnung
gründen.


Die Stellung der Römer in den Staaten der Völker¬
wanderung.

Einem großen Theile der Gebildeten, auch denjenigen, welche ein vorzüg¬
licheres Interesse für die Geschichte der Menschheit hegen, erscheint die Zeit der
Völkerwanderung wie ein ungeheurer Abgrund, angefüllt von verwirrtem Ge-
trümmer. den traurigen Resten der Schöpfungen, in welchen der antike Geist
seinen Ausdruck gefunden und seine Entwickelung vollzogen hatte.

Auch die vereinzelten Heldengestalten, die sich in gewaltiger Frische über
die dunkelgährenden Massen erheben, vermögen wir nicht mit ungetrübter Freude
zu bewundern, sie erinnern uns zu sehr an die Fülle von Leben, die hier unter¬
ging, theilweise grade durch sie zertrümmert ward.

Jenseits dieser Kluft ragt das römische Imperium großartig durch die Massen,
die es ordnend bewältigt. Diesseits erhebt sich ein neues Staatensystem, eine
Fülle von Bildungen, welche fast zusammenhangslos mit der hinter ihr liegenden
Welt als neue Anfänge dazustehn scheinen. Leicht freilich überredet man sich,
daß dem nicht so sei; a priori schon sind wir überzeugt, daß zu dem Gebäude
der neuen Welt mancher Baustein aus den Ruinen der alten verwerthet ward,
und einige derselben werden auch von dem flüchtigen Beschauer leicht erkannt.
Aber dennoch glauben Viele, dies Gebiet denen überlassen zu dürfen, welche
ihre Neigung grade zu möglichst unergiebigen, hoffnungslosen Aufgaben führt;
sei es um dort für ihren Scharfsinn würdige Aufgaben oder für ihre Träumereien
und vagen Combinationen ein Feld zu finden, das in dem verwirrten Gezweig
Widersprechender Nachrichten, in den dunkeln Tiefen zusammenhanglos überlieferter
Thatsachen, den weiten Oeden gänzlichen Schweigens unterrichteter Zeugen,
Verstecke genug bietet, die vor jeder Controle sicher stellen.

Zum Glück ist dem doch nicht ganz so. Wenn unsere Quellen auch spär¬
lich fließen, so schöpfen wir aus ihnen doch manche sichere Kunde, welche uns
den Entwickelungsgang erkennen läßt, den jene gewaltige Zeit genommen. Bei
einfach vorurtheilsfreier Erwägung wird sich mancher Knoten lösen, mancher
Irrthum einer bessern Erkenntniß weichen. Und wahrlich es ist der Mühe
werth, diesen Versuch zu wagen. denn in dieser Periode liegen die Keime des
politischen wie des geistigen Lebens der modernen Völker, hier wurzelt ihre
Sprache und Poesie, ihre Religion, ihr Staat, die jetzt alle mächtigen Bäumen
gleichen, von denen schon manche Generation reife Früchte brach, und auf deren
frische Lebenskraft wir für uns und eine ferne Zukunft die schönste Hoffnung
gründen.


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[0193] Die Stellung der Römer in den Staaten der Völker¬ wanderung. Einem großen Theile der Gebildeten, auch denjenigen, welche ein vorzüg¬ licheres Interesse für die Geschichte der Menschheit hegen, erscheint die Zeit der Völkerwanderung wie ein ungeheurer Abgrund, angefüllt von verwirrtem Ge- trümmer. den traurigen Resten der Schöpfungen, in welchen der antike Geist seinen Ausdruck gefunden und seine Entwickelung vollzogen hatte. Auch die vereinzelten Heldengestalten, die sich in gewaltiger Frische über die dunkelgährenden Massen erheben, vermögen wir nicht mit ungetrübter Freude zu bewundern, sie erinnern uns zu sehr an die Fülle von Leben, die hier unter¬ ging, theilweise grade durch sie zertrümmert ward. Jenseits dieser Kluft ragt das römische Imperium großartig durch die Massen, die es ordnend bewältigt. Diesseits erhebt sich ein neues Staatensystem, eine Fülle von Bildungen, welche fast zusammenhangslos mit der hinter ihr liegenden Welt als neue Anfänge dazustehn scheinen. Leicht freilich überredet man sich, daß dem nicht so sei; a priori schon sind wir überzeugt, daß zu dem Gebäude der neuen Welt mancher Baustein aus den Ruinen der alten verwerthet ward, und einige derselben werden auch von dem flüchtigen Beschauer leicht erkannt. Aber dennoch glauben Viele, dies Gebiet denen überlassen zu dürfen, welche ihre Neigung grade zu möglichst unergiebigen, hoffnungslosen Aufgaben führt; sei es um dort für ihren Scharfsinn würdige Aufgaben oder für ihre Träumereien und vagen Combinationen ein Feld zu finden, das in dem verwirrten Gezweig Widersprechender Nachrichten, in den dunkeln Tiefen zusammenhanglos überlieferter Thatsachen, den weiten Oeden gänzlichen Schweigens unterrichteter Zeugen, Verstecke genug bietet, die vor jeder Controle sicher stellen. Zum Glück ist dem doch nicht ganz so. Wenn unsere Quellen auch spär¬ lich fließen, so schöpfen wir aus ihnen doch manche sichere Kunde, welche uns den Entwickelungsgang erkennen läßt, den jene gewaltige Zeit genommen. Bei einfach vorurtheilsfreier Erwägung wird sich mancher Knoten lösen, mancher Irrthum einer bessern Erkenntniß weichen. Und wahrlich es ist der Mühe werth, diesen Versuch zu wagen. denn in dieser Periode liegen die Keime des politischen wie des geistigen Lebens der modernen Völker, hier wurzelt ihre Sprache und Poesie, ihre Religion, ihr Staat, die jetzt alle mächtigen Bäumen gleichen, von denen schon manche Generation reife Früchte brach, und auf deren frische Lebenskraft wir für uns und eine ferne Zukunft die schönste Hoffnung gründen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/193>, abgerufen am 29.04.2024.