Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

verwirklicht zu sehen. Es ist wahrscheinlich, daß man zögern und zaudern,
daß man warten wird, bis die Ereignisse auch diese Möglichkeit überholt haben.
Dadurch durften wir uns aber nicht abhalten lassen, diese Vorschläge zu machen,
wenn auch halb mit dem Bewußtsein des: "Uou spsin Seculi sumus, sea
Kollorem!"

Bleibt man taub für jeden wohlgemeinten Nath. -- nun, so mögen die
Geschicke sich erfüllen.




Brief eines deutschen Dichters,
nach dem Bombardement von Dresden, 1760.

Wer war Gottlieb Wilhelm Rabener? Selbstverständlich ein Dichter (1714
bis 1771). Was hat er geschrieben? Wie jedermann weiß, Satiren. Wer
hat sie gelesen? Wir vermuthen, keine große Zahl der jetzt lebenden Menschen.
-- Und doch war der gute, gescheidte und aufgeklärte Mann ein Lehrer und
Stimmführer seiner Zeit, von kaum geringerem Einfluß als Gellert. Ein Jahr
nach seinem Tode erschien die zehnte Auflage seiner "satirischen Schriften". --
Die nächste Folgezeit empfand, wie das immer geschieht, zunächst den Fortschritt,
den sie selbst gemacht hatte, und es stand ihr wohl an. mit einigem Stolz auf
die ersten Vertreter ihrer Humanität herabzusehen. Wir stehen anders zu diesen
Alten, wir würdigen sie unbefangen als Repräsentanten einer vergangenen Bil¬
dung, und wir freuen uns. wo wir auf ihren kleinen Flöten zuerst eine leise
Melodie hören, welche seitdem voller und wohltönender durch die deutschen
Länder gezogen ist.

Allerdings ist kaum ein größerer Gegensatz denkbar, als zwischen den Sa¬
tiren Nabcners und den Gedichten seines großen Vorbildes Horaz. Was er
Satiren nannte, waren kleine Prosaaufsätze, Briefe, Abhandlungen u. s. w., in
denen er Verkehrtheiten seiner Zeit gewissermaßen scherzhaft, in der Regel durch
Uebertreibung auffällig machte. Sorgfältig vermied er persönliche Anspielungen,
hielt sich genau in bürgerlichem Kreise und hütete sich, vornehme Narrheit auf
den Markt zustellen; zwar gestand er einem Vertrauten, daß die Thorheiten der
Großen nicht weniger ausgiebig wären, aber die Sache sei gefährlich; höchstens


verwirklicht zu sehen. Es ist wahrscheinlich, daß man zögern und zaudern,
daß man warten wird, bis die Ereignisse auch diese Möglichkeit überholt haben.
Dadurch durften wir uns aber nicht abhalten lassen, diese Vorschläge zu machen,
wenn auch halb mit dem Bewußtsein des: „Uou spsin Seculi sumus, sea
Kollorem!"

Bleibt man taub für jeden wohlgemeinten Nath. — nun, so mögen die
Geschicke sich erfüllen.




Brief eines deutschen Dichters,
nach dem Bombardement von Dresden, 1760.

Wer war Gottlieb Wilhelm Rabener? Selbstverständlich ein Dichter (1714
bis 1771). Was hat er geschrieben? Wie jedermann weiß, Satiren. Wer
hat sie gelesen? Wir vermuthen, keine große Zahl der jetzt lebenden Menschen.
— Und doch war der gute, gescheidte und aufgeklärte Mann ein Lehrer und
Stimmführer seiner Zeit, von kaum geringerem Einfluß als Gellert. Ein Jahr
nach seinem Tode erschien die zehnte Auflage seiner „satirischen Schriften". —
Die nächste Folgezeit empfand, wie das immer geschieht, zunächst den Fortschritt,
den sie selbst gemacht hatte, und es stand ihr wohl an. mit einigem Stolz auf
die ersten Vertreter ihrer Humanität herabzusehen. Wir stehen anders zu diesen
Alten, wir würdigen sie unbefangen als Repräsentanten einer vergangenen Bil¬
dung, und wir freuen uns. wo wir auf ihren kleinen Flöten zuerst eine leise
Melodie hören, welche seitdem voller und wohltönender durch die deutschen
Länder gezogen ist.

Allerdings ist kaum ein größerer Gegensatz denkbar, als zwischen den Sa¬
tiren Nabcners und den Gedichten seines großen Vorbildes Horaz. Was er
Satiren nannte, waren kleine Prosaaufsätze, Briefe, Abhandlungen u. s. w., in
denen er Verkehrtheiten seiner Zeit gewissermaßen scherzhaft, in der Regel durch
Uebertreibung auffällig machte. Sorgfältig vermied er persönliche Anspielungen,
hielt sich genau in bürgerlichem Kreise und hütete sich, vornehme Narrheit auf
den Markt zustellen; zwar gestand er einem Vertrauten, daß die Thorheiten der
Großen nicht weniger ausgiebig wären, aber die Sache sei gefährlich; höchstens


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0409" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/285437"/>
          <p xml:id="ID_1236" prev="#ID_1235"> verwirklicht zu sehen. Es ist wahrscheinlich, daß man zögern und zaudern,<lb/>
daß man warten wird, bis die Ereignisse auch diese Möglichkeit überholt haben.<lb/>
Dadurch durften wir uns aber nicht abhalten lassen, diese Vorschläge zu machen,<lb/>
wenn auch halb mit dem Bewußtsein des: &#x201E;Uou spsin Seculi sumus, sea<lb/>
Kollorem!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1237"> Bleibt man taub für jeden wohlgemeinten Nath. &#x2014; nun, so mögen die<lb/>
Geschicke sich erfüllen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Brief eines deutschen Dichters,<lb/>
nach dem Bombardement von Dresden, 1760.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1238"> Wer war Gottlieb Wilhelm Rabener? Selbstverständlich ein Dichter (1714<lb/>
bis 1771). Was hat er geschrieben? Wie jedermann weiß, Satiren. Wer<lb/>
hat sie gelesen? Wir vermuthen, keine große Zahl der jetzt lebenden Menschen.<lb/>
&#x2014; Und doch war der gute, gescheidte und aufgeklärte Mann ein Lehrer und<lb/>
Stimmführer seiner Zeit, von kaum geringerem Einfluß als Gellert. Ein Jahr<lb/>
nach seinem Tode erschien die zehnte Auflage seiner &#x201E;satirischen Schriften". &#x2014;<lb/>
Die nächste Folgezeit empfand, wie das immer geschieht, zunächst den Fortschritt,<lb/>
den sie selbst gemacht hatte, und es stand ihr wohl an. mit einigem Stolz auf<lb/>
die ersten Vertreter ihrer Humanität herabzusehen. Wir stehen anders zu diesen<lb/>
Alten, wir würdigen sie unbefangen als Repräsentanten einer vergangenen Bil¬<lb/>
dung, und wir freuen uns. wo wir auf ihren kleinen Flöten zuerst eine leise<lb/>
Melodie hören, welche seitdem voller und wohltönender durch die deutschen<lb/>
Länder gezogen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1239" next="#ID_1240"> Allerdings ist kaum ein größerer Gegensatz denkbar, als zwischen den Sa¬<lb/>
tiren Nabcners und den Gedichten seines großen Vorbildes Horaz. Was er<lb/>
Satiren nannte, waren kleine Prosaaufsätze, Briefe, Abhandlungen u. s. w., in<lb/>
denen er Verkehrtheiten seiner Zeit gewissermaßen scherzhaft, in der Regel durch<lb/>
Uebertreibung auffällig machte. Sorgfältig vermied er persönliche Anspielungen,<lb/>
hielt sich genau in bürgerlichem Kreise und hütete sich, vornehme Narrheit auf<lb/>
den Markt zustellen; zwar gestand er einem Vertrauten, daß die Thorheiten der<lb/>
Großen nicht weniger ausgiebig wären, aber die Sache sei gefährlich; höchstens</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0409] verwirklicht zu sehen. Es ist wahrscheinlich, daß man zögern und zaudern, daß man warten wird, bis die Ereignisse auch diese Möglichkeit überholt haben. Dadurch durften wir uns aber nicht abhalten lassen, diese Vorschläge zu machen, wenn auch halb mit dem Bewußtsein des: „Uou spsin Seculi sumus, sea Kollorem!" Bleibt man taub für jeden wohlgemeinten Nath. — nun, so mögen die Geschicke sich erfüllen. Brief eines deutschen Dichters, nach dem Bombardement von Dresden, 1760. Wer war Gottlieb Wilhelm Rabener? Selbstverständlich ein Dichter (1714 bis 1771). Was hat er geschrieben? Wie jedermann weiß, Satiren. Wer hat sie gelesen? Wir vermuthen, keine große Zahl der jetzt lebenden Menschen. — Und doch war der gute, gescheidte und aufgeklärte Mann ein Lehrer und Stimmführer seiner Zeit, von kaum geringerem Einfluß als Gellert. Ein Jahr nach seinem Tode erschien die zehnte Auflage seiner „satirischen Schriften". — Die nächste Folgezeit empfand, wie das immer geschieht, zunächst den Fortschritt, den sie selbst gemacht hatte, und es stand ihr wohl an. mit einigem Stolz auf die ersten Vertreter ihrer Humanität herabzusehen. Wir stehen anders zu diesen Alten, wir würdigen sie unbefangen als Repräsentanten einer vergangenen Bil¬ dung, und wir freuen uns. wo wir auf ihren kleinen Flöten zuerst eine leise Melodie hören, welche seitdem voller und wohltönender durch die deutschen Länder gezogen ist. Allerdings ist kaum ein größerer Gegensatz denkbar, als zwischen den Sa¬ tiren Nabcners und den Gedichten seines großen Vorbildes Horaz. Was er Satiren nannte, waren kleine Prosaaufsätze, Briefe, Abhandlungen u. s. w., in denen er Verkehrtheiten seiner Zeit gewissermaßen scherzhaft, in der Regel durch Uebertreibung auffällig machte. Sorgfältig vermied er persönliche Anspielungen, hielt sich genau in bürgerlichem Kreise und hütete sich, vornehme Narrheit auf den Markt zustellen; zwar gestand er einem Vertrauten, daß die Thorheiten der Großen nicht weniger ausgiebig wären, aber die Sache sei gefährlich; höchstens

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/409
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/409>, abgerufen am 29.04.2024.