Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Erinnerungen an Friedrich Riickert.
2.

Das einfache, aber geräumige Haus in NeuscS war schon früher während
der Sommermonate selten von Gästen leer geworben und jetzt, als Rückerts
dauernder Wohnsitz, übte es eine noch größere Anziehungskraft, in weite Fernen
ebensosehr, wie in die nähere Umgebung, Es erfüllte sich in der That oft genug
an ihm, was Walther von der Vogelweide in halbärgerlichcm Humor von der
Wartburg in ihren glänzendsten Tagen singt: Eine Schaar von Gästen fährt
aus, die andere ein, Nacht und Tag. Aber der Wirth selbst lies, sich dadurch
nicht aus seinem ruhigen Gleise bringen. Wer kam, wußte es, oder lernte es
sehr bald, daß der Dichter zwar eine unbeschränkte Gastlichkeit übte, aber auch
voraussetzte, daß die Gäste gegen ihn ebenso humane Rücksicht oder, wenn man
will, Nachsicht übten. Sein täglich gleicher äußerer Lebensgang war ihm
ebensowohl psychische wie physische Nothwendigkeit geworden. Der Angelpunkt,
um den er sich drehte, war Arbeit, und' zwar die angestrengteste, deren äußere
Züge leicht zu skizziren sind, während sich die darauf verwandte innere Anspan¬
nung jeder Einsicht entzieht: der früheste Morgen fand ihn auch in diesem
letzten Abschnitte seines Lebens schon an seinem 'Pulte. Selbst im Winter
blieb er seiner von frühester Jugend geübten Sitte treu, lange vor Tages¬
anbruch schon in voller Thätigkeit zu sein. Trotz seiner Klagen über abneh¬
mende Sehkraft namentlich bei künstlichem Lichte, arbeitete er doch bei solchem
schon von fünf Uhr, spätestens sechs Uhr an. Nur in den allerletzten Lebens¬
jahren gönnte er sich in den Morgenstunden etwas längere Ruhe. Der Vor¬
mittag war fast ohne Unterbrechung gleichfalls der Arbeit gewidmet, höchstens
führten ihn einige kurzeDänge in den Hausgarten auf eine Viertel- oder Halbe¬
stunde von den Büchern und Papieren weg. Ein Theil des Nachmittags
gehörte selbstverständlich der Erholung im Freien, denn wenn er überhaupt im
Freien war. pflegte er auch, wenigstens in den späteren Jahren, die Materialien
seiner Arbeit nicht mit sich zu nehmen. Früher sah man ihn wohl auch halbe,
ja ganze Tage lang in günstiger Sommerzeit seinen eigentlichen Arbeitstisch in
irgendeiner Laube seines neusesser Gartens aufstellen, später kam er von dieser
Gewohnheit ganz zurück, wahrscheinlich weil es'ihm zu unbequem war. die
zahlreiche" und oft sehr schwerfälligen Bücher, deren er gewöhnlich nach der
Art seiner hauptsächlichsten wissenschaftlichen Thätigkeit bedürfte, von einem
Orte zum anderen zu transportiren, denn sie durch fremde Hände transportiren
zu lassen, widerstrebte ebenso sehr der Einfachheit seines Wesens, die so wenig


Erinnerungen an Friedrich Riickert.
2.

Das einfache, aber geräumige Haus in NeuscS war schon früher während
der Sommermonate selten von Gästen leer geworben und jetzt, als Rückerts
dauernder Wohnsitz, übte es eine noch größere Anziehungskraft, in weite Fernen
ebensosehr, wie in die nähere Umgebung, Es erfüllte sich in der That oft genug
an ihm, was Walther von der Vogelweide in halbärgerlichcm Humor von der
Wartburg in ihren glänzendsten Tagen singt: Eine Schaar von Gästen fährt
aus, die andere ein, Nacht und Tag. Aber der Wirth selbst lies, sich dadurch
nicht aus seinem ruhigen Gleise bringen. Wer kam, wußte es, oder lernte es
sehr bald, daß der Dichter zwar eine unbeschränkte Gastlichkeit übte, aber auch
voraussetzte, daß die Gäste gegen ihn ebenso humane Rücksicht oder, wenn man
will, Nachsicht übten. Sein täglich gleicher äußerer Lebensgang war ihm
ebensowohl psychische wie physische Nothwendigkeit geworden. Der Angelpunkt,
um den er sich drehte, war Arbeit, und' zwar die angestrengteste, deren äußere
Züge leicht zu skizziren sind, während sich die darauf verwandte innere Anspan¬
nung jeder Einsicht entzieht: der früheste Morgen fand ihn auch in diesem
letzten Abschnitte seines Lebens schon an seinem 'Pulte. Selbst im Winter
blieb er seiner von frühester Jugend geübten Sitte treu, lange vor Tages¬
anbruch schon in voller Thätigkeit zu sein. Trotz seiner Klagen über abneh¬
mende Sehkraft namentlich bei künstlichem Lichte, arbeitete er doch bei solchem
schon von fünf Uhr, spätestens sechs Uhr an. Nur in den allerletzten Lebens¬
jahren gönnte er sich in den Morgenstunden etwas längere Ruhe. Der Vor¬
mittag war fast ohne Unterbrechung gleichfalls der Arbeit gewidmet, höchstens
führten ihn einige kurzeDänge in den Hausgarten auf eine Viertel- oder Halbe¬
stunde von den Büchern und Papieren weg. Ein Theil des Nachmittags
gehörte selbstverständlich der Erholung im Freien, denn wenn er überhaupt im
Freien war. pflegte er auch, wenigstens in den späteren Jahren, die Materialien
seiner Arbeit nicht mit sich zu nehmen. Früher sah man ihn wohl auch halbe,
ja ganze Tage lang in günstiger Sommerzeit seinen eigentlichen Arbeitstisch in
irgendeiner Laube seines neusesser Gartens aufstellen, später kam er von dieser
Gewohnheit ganz zurück, wahrscheinlich weil es'ihm zu unbequem war. die
zahlreiche» und oft sehr schwerfälligen Bücher, deren er gewöhnlich nach der
Art seiner hauptsächlichsten wissenschaftlichen Thätigkeit bedürfte, von einem
Orte zum anderen zu transportiren, denn sie durch fremde Hände transportiren
zu lassen, widerstrebte ebenso sehr der Einfachheit seines Wesens, die so wenig


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0080" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/285106"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Erinnerungen an Friedrich Riickert.<lb/>
2.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_157" next="#ID_158"> Das einfache, aber geräumige Haus in NeuscS war schon früher während<lb/>
der Sommermonate selten von Gästen leer geworben und jetzt, als Rückerts<lb/>
dauernder Wohnsitz, übte es eine noch größere Anziehungskraft, in weite Fernen<lb/>
ebensosehr, wie in die nähere Umgebung, Es erfüllte sich in der That oft genug<lb/>
an ihm, was Walther von der Vogelweide in halbärgerlichcm Humor von der<lb/>
Wartburg in ihren glänzendsten Tagen singt: Eine Schaar von Gästen fährt<lb/>
aus, die andere ein, Nacht und Tag. Aber der Wirth selbst lies, sich dadurch<lb/>
nicht aus seinem ruhigen Gleise bringen. Wer kam, wußte es, oder lernte es<lb/>
sehr bald, daß der Dichter zwar eine unbeschränkte Gastlichkeit übte, aber auch<lb/>
voraussetzte, daß die Gäste gegen ihn ebenso humane Rücksicht oder, wenn man<lb/>
will, Nachsicht übten. Sein täglich gleicher äußerer Lebensgang war ihm<lb/>
ebensowohl psychische wie physische Nothwendigkeit geworden. Der Angelpunkt,<lb/>
um den er sich drehte, war Arbeit, und' zwar die angestrengteste, deren äußere<lb/>
Züge leicht zu skizziren sind, während sich die darauf verwandte innere Anspan¬<lb/>
nung jeder Einsicht entzieht: der früheste Morgen fand ihn auch in diesem<lb/>
letzten Abschnitte seines Lebens schon an seinem 'Pulte. Selbst im Winter<lb/>
blieb er seiner von frühester Jugend geübten Sitte treu, lange vor Tages¬<lb/>
anbruch schon in voller Thätigkeit zu sein. Trotz seiner Klagen über abneh¬<lb/>
mende Sehkraft namentlich bei künstlichem Lichte, arbeitete er doch bei solchem<lb/>
schon von fünf Uhr, spätestens sechs Uhr an. Nur in den allerletzten Lebens¬<lb/>
jahren gönnte er sich in den Morgenstunden etwas längere Ruhe. Der Vor¬<lb/>
mittag war fast ohne Unterbrechung gleichfalls der Arbeit gewidmet, höchstens<lb/>
führten ihn einige kurzeDänge in den Hausgarten auf eine Viertel- oder Halbe¬<lb/>
stunde von den Büchern und Papieren weg. Ein Theil des Nachmittags<lb/>
gehörte selbstverständlich der Erholung im Freien, denn wenn er überhaupt im<lb/>
Freien war. pflegte er auch, wenigstens in den späteren Jahren, die Materialien<lb/>
seiner Arbeit nicht mit sich zu nehmen. Früher sah man ihn wohl auch halbe,<lb/>
ja ganze Tage lang in günstiger Sommerzeit seinen eigentlichen Arbeitstisch in<lb/>
irgendeiner Laube seines neusesser Gartens aufstellen, später kam er von dieser<lb/>
Gewohnheit ganz zurück, wahrscheinlich weil es'ihm zu unbequem war. die<lb/>
zahlreiche» und oft sehr schwerfälligen Bücher, deren er gewöhnlich nach der<lb/>
Art seiner hauptsächlichsten wissenschaftlichen Thätigkeit bedürfte, von einem<lb/>
Orte zum anderen zu transportiren, denn sie durch fremde Hände transportiren<lb/>
zu lassen, widerstrebte ebenso sehr der Einfachheit seines Wesens, die so wenig</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0080] Erinnerungen an Friedrich Riickert. 2. Das einfache, aber geräumige Haus in NeuscS war schon früher während der Sommermonate selten von Gästen leer geworben und jetzt, als Rückerts dauernder Wohnsitz, übte es eine noch größere Anziehungskraft, in weite Fernen ebensosehr, wie in die nähere Umgebung, Es erfüllte sich in der That oft genug an ihm, was Walther von der Vogelweide in halbärgerlichcm Humor von der Wartburg in ihren glänzendsten Tagen singt: Eine Schaar von Gästen fährt aus, die andere ein, Nacht und Tag. Aber der Wirth selbst lies, sich dadurch nicht aus seinem ruhigen Gleise bringen. Wer kam, wußte es, oder lernte es sehr bald, daß der Dichter zwar eine unbeschränkte Gastlichkeit übte, aber auch voraussetzte, daß die Gäste gegen ihn ebenso humane Rücksicht oder, wenn man will, Nachsicht übten. Sein täglich gleicher äußerer Lebensgang war ihm ebensowohl psychische wie physische Nothwendigkeit geworden. Der Angelpunkt, um den er sich drehte, war Arbeit, und' zwar die angestrengteste, deren äußere Züge leicht zu skizziren sind, während sich die darauf verwandte innere Anspan¬ nung jeder Einsicht entzieht: der früheste Morgen fand ihn auch in diesem letzten Abschnitte seines Lebens schon an seinem 'Pulte. Selbst im Winter blieb er seiner von frühester Jugend geübten Sitte treu, lange vor Tages¬ anbruch schon in voller Thätigkeit zu sein. Trotz seiner Klagen über abneh¬ mende Sehkraft namentlich bei künstlichem Lichte, arbeitete er doch bei solchem schon von fünf Uhr, spätestens sechs Uhr an. Nur in den allerletzten Lebens¬ jahren gönnte er sich in den Morgenstunden etwas längere Ruhe. Der Vor¬ mittag war fast ohne Unterbrechung gleichfalls der Arbeit gewidmet, höchstens führten ihn einige kurzeDänge in den Hausgarten auf eine Viertel- oder Halbe¬ stunde von den Büchern und Papieren weg. Ein Theil des Nachmittags gehörte selbstverständlich der Erholung im Freien, denn wenn er überhaupt im Freien war. pflegte er auch, wenigstens in den späteren Jahren, die Materialien seiner Arbeit nicht mit sich zu nehmen. Früher sah man ihn wohl auch halbe, ja ganze Tage lang in günstiger Sommerzeit seinen eigentlichen Arbeitstisch in irgendeiner Laube seines neusesser Gartens aufstellen, später kam er von dieser Gewohnheit ganz zurück, wahrscheinlich weil es'ihm zu unbequem war. die zahlreiche» und oft sehr schwerfälligen Bücher, deren er gewöhnlich nach der Art seiner hauptsächlichsten wissenschaftlichen Thätigkeit bedürfte, von einem Orte zum anderen zu transportiren, denn sie durch fremde Hände transportiren zu lassen, widerstrebte ebenso sehr der Einfachheit seines Wesens, die so wenig

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/80
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/80>, abgerufen am 29.04.2024.