Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Negierung und Parlament in Italien.

Die Verlegung der Hauptstadt Italiens nach Florenz hat eine eigenthüm¬
liche Wirkung gehabt, aus die man nicht gefaßt war: sie hat den piemonte-
sischen Einfluß in der Regierung des Königreichs verstärkt. Genau das Gegen¬
theil der beabsichtigten Wirkung ist eingetreten. Denn wenn jene Maßregel
zunächst den Zweck hatte von Rom abzulenken, so war dies nur dadurch möglich,
daß für das Königreich ein natürlicherer Mittelpunkt ausersehen wurde als Turin,
daß die Hauptstadt von der nordwestlichen Grenze nach der wirklichen Mitte
der Halbinsel gerückt und damit der üble Schein beseitigt wurde, als ob das
constituirte Königreich auch künftig nur als ein erweitertes Piemont, als Annex
des subalpinischen Staats gelten solle. In diesem Sinn durste man in der
Uebertragung des Sitzes der Negierungsgewalten nach Florenz die Besteglung
der Einheit, die Beendigung des Provisoriums erblicken. Seltsam! Die nächste
Folge war eine rückläufige Bewegung, eine entschiednere Zurückwerfung des
Schwerpunkts nach Piemont denn zuvor.

Diese Wirkung war keine zufällige, wenn sie auch an einen unvorher¬
gesehenen Anlaß sich knüpfte. Als aus die Veröffentlichung des September-
Vertrags die Emeute in Turin antwortete, mußten die Zügel der Regierung in
eine starke Hand gelegt werden. Das damalige Ministerium, dessen leitende
Mitglieder Mittclitaliener waren, besaß nicht die Kraft, gleichzeitig die Maßregel
der Verlegung durchzuführen und den Widerstand eines gekränkten und em¬
pörten Municipalgeists niederzuschlagen. Es bedürfte dazu der Mittel derjenigen
Provinz, welche der historische Kern des Königreichs war, und die Krone zögerte
nicht, ein wesentlich piemontcsisches Ministerium zu berufen, nicht um jenen in-
ternationalen Vertrag zu widerrufen, sondern um dem Widerstand zum Trotz,
auf den er gestoßen, ihn durchzusetzen. Die scheinbare Anomalie konnte nicht
schärfer markirt sein. In demselben Augenblick, da das Ministerium Minghettl-
Peruzzi mit dem Gelingen eines wichtigen politischen Acts vor die Oeffentlich-
keit trat, dessen Durchführung doch zunächst von seinen Urhebern erwartet


Grenzboten II, 1866.
Negierung und Parlament in Italien.

Die Verlegung der Hauptstadt Italiens nach Florenz hat eine eigenthüm¬
liche Wirkung gehabt, aus die man nicht gefaßt war: sie hat den piemonte-
sischen Einfluß in der Regierung des Königreichs verstärkt. Genau das Gegen¬
theil der beabsichtigten Wirkung ist eingetreten. Denn wenn jene Maßregel
zunächst den Zweck hatte von Rom abzulenken, so war dies nur dadurch möglich,
daß für das Königreich ein natürlicherer Mittelpunkt ausersehen wurde als Turin,
daß die Hauptstadt von der nordwestlichen Grenze nach der wirklichen Mitte
der Halbinsel gerückt und damit der üble Schein beseitigt wurde, als ob das
constituirte Königreich auch künftig nur als ein erweitertes Piemont, als Annex
des subalpinischen Staats gelten solle. In diesem Sinn durste man in der
Uebertragung des Sitzes der Negierungsgewalten nach Florenz die Besteglung
der Einheit, die Beendigung des Provisoriums erblicken. Seltsam! Die nächste
Folge war eine rückläufige Bewegung, eine entschiednere Zurückwerfung des
Schwerpunkts nach Piemont denn zuvor.

Diese Wirkung war keine zufällige, wenn sie auch an einen unvorher¬
gesehenen Anlaß sich knüpfte. Als aus die Veröffentlichung des September-
Vertrags die Emeute in Turin antwortete, mußten die Zügel der Regierung in
eine starke Hand gelegt werden. Das damalige Ministerium, dessen leitende
Mitglieder Mittclitaliener waren, besaß nicht die Kraft, gleichzeitig die Maßregel
der Verlegung durchzuführen und den Widerstand eines gekränkten und em¬
pörten Municipalgeists niederzuschlagen. Es bedürfte dazu der Mittel derjenigen
Provinz, welche der historische Kern des Königreichs war, und die Krone zögerte
nicht, ein wesentlich piemontcsisches Ministerium zu berufen, nicht um jenen in-
ternationalen Vertrag zu widerrufen, sondern um dem Widerstand zum Trotz,
auf den er gestoßen, ihn durchzusetzen. Die scheinbare Anomalie konnte nicht
schärfer markirt sein. In demselben Augenblick, da das Ministerium Minghettl-
Peruzzi mit dem Gelingen eines wichtigen politischen Acts vor die Oeffentlich-
keit trat, dessen Durchführung doch zunächst von seinen Urhebern erwartet


Grenzboten II, 1866.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0095" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/285121"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Negierung und Parlament in Italien.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_182"> Die Verlegung der Hauptstadt Italiens nach Florenz hat eine eigenthüm¬<lb/>
liche Wirkung gehabt, aus die man nicht gefaßt war: sie hat den piemonte-<lb/>
sischen Einfluß in der Regierung des Königreichs verstärkt. Genau das Gegen¬<lb/>
theil der beabsichtigten Wirkung ist eingetreten. Denn wenn jene Maßregel<lb/>
zunächst den Zweck hatte von Rom abzulenken, so war dies nur dadurch möglich,<lb/>
daß für das Königreich ein natürlicherer Mittelpunkt ausersehen wurde als Turin,<lb/>
daß die Hauptstadt von der nordwestlichen Grenze nach der wirklichen Mitte<lb/>
der Halbinsel gerückt und damit der üble Schein beseitigt wurde, als ob das<lb/>
constituirte Königreich auch künftig nur als ein erweitertes Piemont, als Annex<lb/>
des subalpinischen Staats gelten solle. In diesem Sinn durste man in der<lb/>
Uebertragung des Sitzes der Negierungsgewalten nach Florenz die Besteglung<lb/>
der Einheit, die Beendigung des Provisoriums erblicken. Seltsam! Die nächste<lb/>
Folge war eine rückläufige Bewegung, eine entschiednere Zurückwerfung des<lb/>
Schwerpunkts nach Piemont denn zuvor.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_183" next="#ID_184"> Diese Wirkung war keine zufällige, wenn sie auch an einen unvorher¬<lb/>
gesehenen Anlaß sich knüpfte. Als aus die Veröffentlichung des September-<lb/>
Vertrags die Emeute in Turin antwortete, mußten die Zügel der Regierung in<lb/>
eine starke Hand gelegt werden. Das damalige Ministerium, dessen leitende<lb/>
Mitglieder Mittclitaliener waren, besaß nicht die Kraft, gleichzeitig die Maßregel<lb/>
der Verlegung durchzuführen und den Widerstand eines gekränkten und em¬<lb/>
pörten Municipalgeists niederzuschlagen. Es bedürfte dazu der Mittel derjenigen<lb/>
Provinz, welche der historische Kern des Königreichs war, und die Krone zögerte<lb/>
nicht, ein wesentlich piemontcsisches Ministerium zu berufen, nicht um jenen in-<lb/>
ternationalen Vertrag zu widerrufen, sondern um dem Widerstand zum Trotz,<lb/>
auf den er gestoßen, ihn durchzusetzen. Die scheinbare Anomalie konnte nicht<lb/>
schärfer markirt sein. In demselben Augenblick, da das Ministerium Minghettl-<lb/>
Peruzzi mit dem Gelingen eines wichtigen politischen Acts vor die Oeffentlich-<lb/>
keit trat, dessen Durchführung doch zunächst von seinen Urhebern erwartet</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II, 1866.</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0095] Negierung und Parlament in Italien. Die Verlegung der Hauptstadt Italiens nach Florenz hat eine eigenthüm¬ liche Wirkung gehabt, aus die man nicht gefaßt war: sie hat den piemonte- sischen Einfluß in der Regierung des Königreichs verstärkt. Genau das Gegen¬ theil der beabsichtigten Wirkung ist eingetreten. Denn wenn jene Maßregel zunächst den Zweck hatte von Rom abzulenken, so war dies nur dadurch möglich, daß für das Königreich ein natürlicherer Mittelpunkt ausersehen wurde als Turin, daß die Hauptstadt von der nordwestlichen Grenze nach der wirklichen Mitte der Halbinsel gerückt und damit der üble Schein beseitigt wurde, als ob das constituirte Königreich auch künftig nur als ein erweitertes Piemont, als Annex des subalpinischen Staats gelten solle. In diesem Sinn durste man in der Uebertragung des Sitzes der Negierungsgewalten nach Florenz die Besteglung der Einheit, die Beendigung des Provisoriums erblicken. Seltsam! Die nächste Folge war eine rückläufige Bewegung, eine entschiednere Zurückwerfung des Schwerpunkts nach Piemont denn zuvor. Diese Wirkung war keine zufällige, wenn sie auch an einen unvorher¬ gesehenen Anlaß sich knüpfte. Als aus die Veröffentlichung des September- Vertrags die Emeute in Turin antwortete, mußten die Zügel der Regierung in eine starke Hand gelegt werden. Das damalige Ministerium, dessen leitende Mitglieder Mittclitaliener waren, besaß nicht die Kraft, gleichzeitig die Maßregel der Verlegung durchzuführen und den Widerstand eines gekränkten und em¬ pörten Municipalgeists niederzuschlagen. Es bedürfte dazu der Mittel derjenigen Provinz, welche der historische Kern des Königreichs war, und die Krone zögerte nicht, ein wesentlich piemontcsisches Ministerium zu berufen, nicht um jenen in- ternationalen Vertrag zu widerrufen, sondern um dem Widerstand zum Trotz, auf den er gestoßen, ihn durchzusetzen. Die scheinbare Anomalie konnte nicht schärfer markirt sein. In demselben Augenblick, da das Ministerium Minghettl- Peruzzi mit dem Gelingen eines wichtigen politischen Acts vor die Oeffentlich- keit trat, dessen Durchführung doch zunächst von seinen Urhebern erwartet Grenzboten II, 1866.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/95
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/95>, abgerufen am 29.04.2024.