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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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werden mußte, war sein Sturz unvermeidlich, und umgekehrt: einen Act durch¬
zuführen, der die piemontesischen Localinteressen empfindlich beschädigte, war
nur dem piemontesischen General möglich, der sich mit piemontesischen College"
umgab. Die Geschichte Italiens wird Alfons Lamarmora die Selbstverläug-
nung nicht vergessen, mit welcher er in jenem bedrohlichen Moment für die
Monarchie einstand und ihr half, bei einem Vertrage fest zu stehen, dessen Gegner
er gewesen war. Die Bedeutung, welche die bewährte Loyalität und die con-
centrirten zuverlässigen Kräfte des alten sardinischen Staats für den Zu¬
sammenhalt des jungen Königreichs noch immer haben, trat in diesem Augen¬
blick auss lebendigste hervor. Hatte die Art und Weise, wie die Negierung
mit dem Scptembervertrag überrascht hatte, unläugbar für die Piemontesen
etwas Verletzendes gehabt, so durften diese keine geringe Genugthuung darin
erblicken, daß ihn durchzuführen der Krone nur möglich wurde mit Hilfe der¬
selben Piemontesen, die sie mit diesem Acte gekränkt hatte.

Aber mit der Wiederherstellung der Ordnung in Turin war die Krisis
nicht beendigt. Jetzt zeigte sich erst, welche dcsorganisirende Wirkung die decretirte
Verlegung des Schwerpunkts nach allen Seiten hin äußerte. Kam es auch
nirgends zu unruhigen Auftritten, so gab sich doch ein allgemeines Mißbehagen
kund. Vergebens stellten die Negierungsorgane die große politische Wichtigkeit
jenes Vertrags ins Licht. Sie hatten gut reden. Die günstigen Erfolge waren
erst von der Zukunft zu hoffen -- was konnte nicht alles störend dazwischen
kommen? -- sie hingen zudem nur davon ab, ob Frankreich ebenso ehrlich sein
Wort halten werde als Italien -- wer mochte darauf große Häuser bauen?
Den Einen mißfiel, daß man eine innere Frage zum Gegenstand eines inter¬
nationalen Vertrags gemacht hatte, die Andern, zumal die Südländer, konnten
sich nicht entschließen, von dem Programm: Rom die Hauptstadt, zu lassen.
Je entfernter die Gegenleistung, der Termin der Räumung Roms war, um so
mehr sah mau nur auf das, was jetzt schon unzweifelhaft war: den Verzicht
auf das cavourschc Programm und die finanziellen Opfer des Umzugs. Den
wesentlichen Fortschritt in der römischen Frage, die vom Tag des Abzugs der
Franzosen eine rein italienische Frage wurde, den Gewinn, den die Wahl einer
central gelegenen Hauptstadt für die Consolidirung des Königreichs haben mußte,
sahen die Wenigsten.

In dieser Lage war die Fortführung des Ministeriums Lamarmora eine
Nothwendigkeit. Es war ausdrücklich als ein Uebcrgangsministerium ins Amt
getreten, aber das Provisorium verlängerte sich, weil das Königreich durch den
Zwischenzustand, der vom Wechsel der Hauptstadt unzertrennlich war, selbst in
eine Art Provisorium zurückgeworfen war. Lamarmora blieb am Nuder, auch-
als das Parlament den Vertrag feierlich sanctionirt hatte; er blieb am Ruder,
als der Umzug ausgeführt wurde, und es trat die neue Anomalie ein: so lange


werden mußte, war sein Sturz unvermeidlich, und umgekehrt: einen Act durch¬
zuführen, der die piemontesischen Localinteressen empfindlich beschädigte, war
nur dem piemontesischen General möglich, der sich mit piemontesischen College»
umgab. Die Geschichte Italiens wird Alfons Lamarmora die Selbstverläug-
nung nicht vergessen, mit welcher er in jenem bedrohlichen Moment für die
Monarchie einstand und ihr half, bei einem Vertrage fest zu stehen, dessen Gegner
er gewesen war. Die Bedeutung, welche die bewährte Loyalität und die con-
centrirten zuverlässigen Kräfte des alten sardinischen Staats für den Zu¬
sammenhalt des jungen Königreichs noch immer haben, trat in diesem Augen¬
blick auss lebendigste hervor. Hatte die Art und Weise, wie die Negierung
mit dem Scptembervertrag überrascht hatte, unläugbar für die Piemontesen
etwas Verletzendes gehabt, so durften diese keine geringe Genugthuung darin
erblicken, daß ihn durchzuführen der Krone nur möglich wurde mit Hilfe der¬
selben Piemontesen, die sie mit diesem Acte gekränkt hatte.

Aber mit der Wiederherstellung der Ordnung in Turin war die Krisis
nicht beendigt. Jetzt zeigte sich erst, welche dcsorganisirende Wirkung die decretirte
Verlegung des Schwerpunkts nach allen Seiten hin äußerte. Kam es auch
nirgends zu unruhigen Auftritten, so gab sich doch ein allgemeines Mißbehagen
kund. Vergebens stellten die Negierungsorgane die große politische Wichtigkeit
jenes Vertrags ins Licht. Sie hatten gut reden. Die günstigen Erfolge waren
erst von der Zukunft zu hoffen — was konnte nicht alles störend dazwischen
kommen? — sie hingen zudem nur davon ab, ob Frankreich ebenso ehrlich sein
Wort halten werde als Italien — wer mochte darauf große Häuser bauen?
Den Einen mißfiel, daß man eine innere Frage zum Gegenstand eines inter¬
nationalen Vertrags gemacht hatte, die Andern, zumal die Südländer, konnten
sich nicht entschließen, von dem Programm: Rom die Hauptstadt, zu lassen.
Je entfernter die Gegenleistung, der Termin der Räumung Roms war, um so
mehr sah mau nur auf das, was jetzt schon unzweifelhaft war: den Verzicht
auf das cavourschc Programm und die finanziellen Opfer des Umzugs. Den
wesentlichen Fortschritt in der römischen Frage, die vom Tag des Abzugs der
Franzosen eine rein italienische Frage wurde, den Gewinn, den die Wahl einer
central gelegenen Hauptstadt für die Consolidirung des Königreichs haben mußte,
sahen die Wenigsten.

In dieser Lage war die Fortführung des Ministeriums Lamarmora eine
Nothwendigkeit. Es war ausdrücklich als ein Uebcrgangsministerium ins Amt
getreten, aber das Provisorium verlängerte sich, weil das Königreich durch den
Zwischenzustand, der vom Wechsel der Hauptstadt unzertrennlich war, selbst in
eine Art Provisorium zurückgeworfen war. Lamarmora blieb am Nuder, auch-
als das Parlament den Vertrag feierlich sanctionirt hatte; er blieb am Ruder,
als der Umzug ausgeführt wurde, und es trat die neue Anomalie ein: so lange


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/96>, abgerufen am 15.05.2024.