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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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Die Mißvergnügten in Hannover.
(Von einem Hannoveraner,)

Wir Deutsche sind doch sonderbare Leute; seit 50 Jahren haben wir für
deutsche Einheit, für deutsche Machtstellung dem Auslande gegenüber geschwärmt,
haben geträumt von Wiedererwachung des deutschen Kaiserthums, geseufzt über
die unerträgliche Kleinstaaterei und uns begeistert für eine Neugeburt des großen
Vaterlandes. Und nun, wo wir endlich einen mächtigen Schritt vorwärts
gethan haben zu dem langersehnten Ziele, wo wir geachtet und gefürchtet vor
ganz Europa dastehen, wo wir einen mächtigen einheitlichen Staat über Nacht
haben aufwachsen sehen, wo wir doppelt stolz uns Deutsche nennen können,
da sehnen wir uns zurück nach den Fleischtöpfen Aegyptens. da seufzen wir
wieder über den Verlust der kleinstaatlichen Gemüthlichkeit. Wahrlich, nichts
zeigt deutlicherden entnervenden und lähmenden Einfluß der Kleinstaaterei, als
die kleinliche Gesinnung, die jetzt so vielfach in wunderlichster Weise zu Tage
tritt in den neuen Landestheilen Preußens, die gar kein Verständniß hat für
den gewaltigen Aufschwung des nationalen Lebens, wie er sich bekundet in
Preußens Machtentwicklung.

Wohl hat der intelligente Kern der Bevölkerung die neueste Phase der
deutschen Geschichte freudig begrüßt und die Aufgabe begriffen, die jetzt jedem
Einzelnen in seinem Kreise geworden ist und die darin besteht mit fortzubauen
an dem großen nationalen Bauwerk, zu dem Preußens genialer Staatsmann
den Eckstein gelegt; wer sich aber in weiteren Kreisen unseres Vaterlandes um¬
gesehen hat, dem kann nicht zweifelhaft sein, daß particularistische Beschränkt¬
heit, böswillige Schadenfreude an jeder Verlegenheit der neuen Regierung,
Mangel an Einsicht in die Nothwendigkeit gewisser Opfer, endlich Speculation
auf gewisse Eventualitäten, deren Eintritt das Elend des gesammten Vater¬
landes nach sich zöge, noch immer ihr Spiel treiben und daß eigensinnige
Verblendung noch manches Auge gefangen hält, das wohl im Stande wäre,
klar zu sehen.

Derer, die mit vollem festen Entschluß die Todten ihre Todten begraben
lassen, die mit der Vergangenheit abgeschlossen haben und mit ganzer Kraft
der neuen Aufgabe sich widmen, bei denen das deutsche Bewußtsein den hanno-
verschen :c. Patriotismus überwiegt, die sich voll als Preußen fühlen und
ihren Stolz darein setzen, als Preußen an dem großen Werk des preußischen
Staats: der Neugründung Deutschlands mit arbeiten zu können, deren giebt es
leider noch immer weniger, als man glauben sollte. Der offenen und versteck-


Die Mißvergnügten in Hannover.
(Von einem Hannoveraner,)

Wir Deutsche sind doch sonderbare Leute; seit 50 Jahren haben wir für
deutsche Einheit, für deutsche Machtstellung dem Auslande gegenüber geschwärmt,
haben geträumt von Wiedererwachung des deutschen Kaiserthums, geseufzt über
die unerträgliche Kleinstaaterei und uns begeistert für eine Neugeburt des großen
Vaterlandes. Und nun, wo wir endlich einen mächtigen Schritt vorwärts
gethan haben zu dem langersehnten Ziele, wo wir geachtet und gefürchtet vor
ganz Europa dastehen, wo wir einen mächtigen einheitlichen Staat über Nacht
haben aufwachsen sehen, wo wir doppelt stolz uns Deutsche nennen können,
da sehnen wir uns zurück nach den Fleischtöpfen Aegyptens. da seufzen wir
wieder über den Verlust der kleinstaatlichen Gemüthlichkeit. Wahrlich, nichts
zeigt deutlicherden entnervenden und lähmenden Einfluß der Kleinstaaterei, als
die kleinliche Gesinnung, die jetzt so vielfach in wunderlichster Weise zu Tage
tritt in den neuen Landestheilen Preußens, die gar kein Verständniß hat für
den gewaltigen Aufschwung des nationalen Lebens, wie er sich bekundet in
Preußens Machtentwicklung.

Wohl hat der intelligente Kern der Bevölkerung die neueste Phase der
deutschen Geschichte freudig begrüßt und die Aufgabe begriffen, die jetzt jedem
Einzelnen in seinem Kreise geworden ist und die darin besteht mit fortzubauen
an dem großen nationalen Bauwerk, zu dem Preußens genialer Staatsmann
den Eckstein gelegt; wer sich aber in weiteren Kreisen unseres Vaterlandes um¬
gesehen hat, dem kann nicht zweifelhaft sein, daß particularistische Beschränkt¬
heit, böswillige Schadenfreude an jeder Verlegenheit der neuen Regierung,
Mangel an Einsicht in die Nothwendigkeit gewisser Opfer, endlich Speculation
auf gewisse Eventualitäten, deren Eintritt das Elend des gesammten Vater¬
landes nach sich zöge, noch immer ihr Spiel treiben und daß eigensinnige
Verblendung noch manches Auge gefangen hält, das wohl im Stande wäre,
klar zu sehen.

Derer, die mit vollem festen Entschluß die Todten ihre Todten begraben
lassen, die mit der Vergangenheit abgeschlossen haben und mit ganzer Kraft
der neuen Aufgabe sich widmen, bei denen das deutsche Bewußtsein den hanno-
verschen :c. Patriotismus überwiegt, die sich voll als Preußen fühlen und
ihren Stolz darein setzen, als Preußen an dem großen Werk des preußischen
Staats: der Neugründung Deutschlands mit arbeiten zu können, deren giebt es
leider noch immer weniger, als man glauben sollte. Der offenen und versteck-


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[0358] Die Mißvergnügten in Hannover. (Von einem Hannoveraner,) Wir Deutsche sind doch sonderbare Leute; seit 50 Jahren haben wir für deutsche Einheit, für deutsche Machtstellung dem Auslande gegenüber geschwärmt, haben geträumt von Wiedererwachung des deutschen Kaiserthums, geseufzt über die unerträgliche Kleinstaaterei und uns begeistert für eine Neugeburt des großen Vaterlandes. Und nun, wo wir endlich einen mächtigen Schritt vorwärts gethan haben zu dem langersehnten Ziele, wo wir geachtet und gefürchtet vor ganz Europa dastehen, wo wir einen mächtigen einheitlichen Staat über Nacht haben aufwachsen sehen, wo wir doppelt stolz uns Deutsche nennen können, da sehnen wir uns zurück nach den Fleischtöpfen Aegyptens. da seufzen wir wieder über den Verlust der kleinstaatlichen Gemüthlichkeit. Wahrlich, nichts zeigt deutlicherden entnervenden und lähmenden Einfluß der Kleinstaaterei, als die kleinliche Gesinnung, die jetzt so vielfach in wunderlichster Weise zu Tage tritt in den neuen Landestheilen Preußens, die gar kein Verständniß hat für den gewaltigen Aufschwung des nationalen Lebens, wie er sich bekundet in Preußens Machtentwicklung. Wohl hat der intelligente Kern der Bevölkerung die neueste Phase der deutschen Geschichte freudig begrüßt und die Aufgabe begriffen, die jetzt jedem Einzelnen in seinem Kreise geworden ist und die darin besteht mit fortzubauen an dem großen nationalen Bauwerk, zu dem Preußens genialer Staatsmann den Eckstein gelegt; wer sich aber in weiteren Kreisen unseres Vaterlandes um¬ gesehen hat, dem kann nicht zweifelhaft sein, daß particularistische Beschränkt¬ heit, böswillige Schadenfreude an jeder Verlegenheit der neuen Regierung, Mangel an Einsicht in die Nothwendigkeit gewisser Opfer, endlich Speculation auf gewisse Eventualitäten, deren Eintritt das Elend des gesammten Vater¬ landes nach sich zöge, noch immer ihr Spiel treiben und daß eigensinnige Verblendung noch manches Auge gefangen hält, das wohl im Stande wäre, klar zu sehen. Derer, die mit vollem festen Entschluß die Todten ihre Todten begraben lassen, die mit der Vergangenheit abgeschlossen haben und mit ganzer Kraft der neuen Aufgabe sich widmen, bei denen das deutsche Bewußtsein den hanno- verschen :c. Patriotismus überwiegt, die sich voll als Preußen fühlen und ihren Stolz darein setzen, als Preußen an dem großen Werk des preußischen Staats: der Neugründung Deutschlands mit arbeiten zu können, deren giebt es leider noch immer weniger, als man glauben sollte. Der offenen und versteck-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/358>, abgerufen am 08.05.2024.