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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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aufrecht halten. Noch weit deutlicher springt nun aber der unhistorische Cha
rakter ins Auge, wenn wir einen näheren Blick in das Sagengetriebe werfen.
Was wir oben als officielle Tradition voranstellten, ist nur der feste Nieder¬
schlag der Sage, der sich im 4. und L. Jahrhundert gebildet und von da an
keine Veränderung mehr erlitten hat. Aber es fehlt viel, daß sie in dieser ge¬
schlossenen Form schon von Anfang an in der altchristlichen Literatur aufträte.
Vielmehr können wir sie noch von ihren unsicheren Anfängen bis zu ihrer spä¬
teren Ausgestaltung verfolgen. Wir werden verschiedene Formationen gewahr,
verschiedene Richtungen, in welche die Sage auseinandergeht. Hier und dort
kommt ein neues Element hinein, die einzelnen Züge sind unter sich unzusam¬
menhängend, widersprechend, fast überall stoßen wir auf chronologische Unmög¬
lichkeiten. Dennoch ist ein gewisses stetiges Fortschreiten mit einer bestimmten
Tendenz erkennbar, und am Ende wird dann das Ganze nach Beseitigung der
gröbsten Unebenheiten in jene officielle Form gegossen, die freilich selbst wieder
auf allen Punkten mit den beglaubigten Thatsachen collidirt. Es ist unerlä߬
lich, wenigstens in den Hauptzügen dieses Anwachsen der Sage zu verfolgen.
Dadurch erst treten wir ihren Motiven und ihrer eigentlichen Bedeutung näher-


Wachsthum der Sage.

Das erste authentische Zeugniß aus der römischen Gemeinde, nach dem
Römcrbricf, ist der Brief des Clemens an tie Korinther. Clemens war dem
römischen Staatskalendcr zufolge Bischof in den Jahren 90 bis 99, und es
steht nichts der Annahme entgegen, daß der Brief, der jedenfalls ein officielles
Document der römischen Gemeinde ist, eben dieser Zeit angehört. Dieser Brief,
der für den in der Gemeinde früh hervortretenden Zug nach einer geschlossenen
Kirchengewalt überaus bezeichnend ist, weiß noch nichts von einer Anwesenheit
des Petrus zu Rom, ja er ist gradezu beweisend, daß um jene Zeit die Sage
überhaupt noch nicht existirte. Allerdings tritt bereits das Bestreben hervor,
beide Apostel einander gleichzustellen. Sie werden zusammen genannt, in
gleicher Weise als Zeugen des Glaubens ausgezeichnet, keiner soll einen Vorrang
vor dem andern haben. Allein die weit bestimmteren Ausdrücke, in denen von
den Leiden und Schicksalen des Paulus die Rede ist, zeigen deutlich, daß dessen
Andenken in der Gemeinde noch lebendig war. Petrus ihr ungleich ferner stand.
Namentlich aber ist von Paulus allein rühmend hervorgehoben, daß er die
ganze Welt lehrend durchzogen habe, bis in den Westen gekommen sei und
hier seinen Lauf beschlossen habe. Damals wußte man also noch nicht davon,
daß auch Petrus nach Westen gekommen sei und hier geendet habe. Ein
Zeugniß, das um so schwerer wiegt, als es das letzte ist, das sich noch ganz
auf geschichtlichem Boden bewegt.

Das nächste Zeugniß ist das des Papias, Bischofs von Hierapolis. Papias


aufrecht halten. Noch weit deutlicher springt nun aber der unhistorische Cha
rakter ins Auge, wenn wir einen näheren Blick in das Sagengetriebe werfen.
Was wir oben als officielle Tradition voranstellten, ist nur der feste Nieder¬
schlag der Sage, der sich im 4. und L. Jahrhundert gebildet und von da an
keine Veränderung mehr erlitten hat. Aber es fehlt viel, daß sie in dieser ge¬
schlossenen Form schon von Anfang an in der altchristlichen Literatur aufträte.
Vielmehr können wir sie noch von ihren unsicheren Anfängen bis zu ihrer spä¬
teren Ausgestaltung verfolgen. Wir werden verschiedene Formationen gewahr,
verschiedene Richtungen, in welche die Sage auseinandergeht. Hier und dort
kommt ein neues Element hinein, die einzelnen Züge sind unter sich unzusam¬
menhängend, widersprechend, fast überall stoßen wir auf chronologische Unmög¬
lichkeiten. Dennoch ist ein gewisses stetiges Fortschreiten mit einer bestimmten
Tendenz erkennbar, und am Ende wird dann das Ganze nach Beseitigung der
gröbsten Unebenheiten in jene officielle Form gegossen, die freilich selbst wieder
auf allen Punkten mit den beglaubigten Thatsachen collidirt. Es ist unerlä߬
lich, wenigstens in den Hauptzügen dieses Anwachsen der Sage zu verfolgen.
Dadurch erst treten wir ihren Motiven und ihrer eigentlichen Bedeutung näher-


Wachsthum der Sage.

Das erste authentische Zeugniß aus der römischen Gemeinde, nach dem
Römcrbricf, ist der Brief des Clemens an tie Korinther. Clemens war dem
römischen Staatskalendcr zufolge Bischof in den Jahren 90 bis 99, und es
steht nichts der Annahme entgegen, daß der Brief, der jedenfalls ein officielles
Document der römischen Gemeinde ist, eben dieser Zeit angehört. Dieser Brief,
der für den in der Gemeinde früh hervortretenden Zug nach einer geschlossenen
Kirchengewalt überaus bezeichnend ist, weiß noch nichts von einer Anwesenheit
des Petrus zu Rom, ja er ist gradezu beweisend, daß um jene Zeit die Sage
überhaupt noch nicht existirte. Allerdings tritt bereits das Bestreben hervor,
beide Apostel einander gleichzustellen. Sie werden zusammen genannt, in
gleicher Weise als Zeugen des Glaubens ausgezeichnet, keiner soll einen Vorrang
vor dem andern haben. Allein die weit bestimmteren Ausdrücke, in denen von
den Leiden und Schicksalen des Paulus die Rede ist, zeigen deutlich, daß dessen
Andenken in der Gemeinde noch lebendig war. Petrus ihr ungleich ferner stand.
Namentlich aber ist von Paulus allein rühmend hervorgehoben, daß er die
ganze Welt lehrend durchzogen habe, bis in den Westen gekommen sei und
hier seinen Lauf beschlossen habe. Damals wußte man also noch nicht davon,
daß auch Petrus nach Westen gekommen sei und hier geendet habe. Ein
Zeugniß, das um so schwerer wiegt, als es das letzte ist, das sich noch ganz
auf geschichtlichem Boden bewegt.

Das nächste Zeugniß ist das des Papias, Bischofs von Hierapolis. Papias


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/98>, abgerufen am 08.05.2024.