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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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Politische Rundschau.
(Die innere Lage Frankreichs.)

X

"Wir wissen selbst nicht, was wir mit uns anfangen sollen." Mit diesem
wunderlichen Bekenntniß beginnt die October-Rundschau der Revue ach äeux
irwirÄes ihre Besprechung der gegenwärtigen europäischen Situation. Wer nur
einige Tage lang französische Octoberluft vom Jahre 1867 einzuathmen Ge¬
legenheit gehabt hat, wird einräumen, daß dieser Ausspruch in der That das
Geheimniß der gegenwärtigen Lage Frankreichs mit merkwürdiger Prägnanz
zusammenfaßt, und daß die Rathlosigkeit, von welcher derselbe Zeugniß ablegt,
dem aufmerksamen wie dem unaufmerksamer Beobachter französischer Zustände
der Gegenwart auf Schritt und Tritt begegnet. Das Verhältniß Frankreichs
zu Deutschland ist begreiflicher Weise der Hauptgegenstand der pariser Berchte,
welche unsere deutschen Zeitungen ausfüllen, und wer ein Journal der Haupt¬
stadt des Westens zur Hand nimmt, sieht dasselbe zunächst darauf an, ob es
freundlich oder feindlich über die Dinge urtheilt, welche sich diesseit des Rheins
vollziehen, ob Krieg oder Frieden die Losung des nächsten Frühjahrs sein werbe.
Und dennoch scheint uns, als habe die Frage nach der Stimmung, welche Frank¬
reich seinen Nachbarn gegenüber hegt, ein blos untergeordnetes Interesse im
Vergleich zu der Frage nach dem Verhältniß der französischen Nation zu sich
selbst. Wohl versteht es sich von selbst, daß dem deutschen Patrioten an Frank¬
reich für den Augenblick nichts wichtiger ist, als sein Verhältniß zu Deutsch
land; die Zeiten sind vorüber, in denen der Deutsche als philosophirender Aller-
weltsmann die Dinge "rein objectiv", von einem "höhern Standpunkt" ansah
und weil er daheim nichts zu verlieren hatte, nicht darnach zu fragen brauchte,
welche seiner eigenen Interessen bei einer Veränderung der Weltlage ins Spiel
kommen könnten. Nichts desto weniger glauben wir, daß die Frage nach Frank¬
reichs nächster Zukunft falsch gestellt ist, wenn man sie in die Alternative:
- "Krieg oder Frieden mit Deutschland" zusammenfaßt. Ein mal läßt sich für
uns von den französischen Zuständen der Gegenwart, auch abgesehen von des
dritten Napoleon nächsten Entschließungen, außerordentlich viel lernen und zwei-
tens wird die Frage, ob Frankreich mit sich selbst Frieden schließen und zur
Ruhe kommen wnd, zugleich dafür entscheidend sein, ob die Adler des zweiten
Kaiserreichs über den Rhein getragen werden oder zu Hause bleiben.

Die Phrase "auswärtiger Krieg oder innere Freiheit" ist unzählige
Male wiederholt worden. Daß diese Alternative so frech und offen aufgestellt


Politische Rundschau.
(Die innere Lage Frankreichs.)

X

„Wir wissen selbst nicht, was wir mit uns anfangen sollen." Mit diesem
wunderlichen Bekenntniß beginnt die October-Rundschau der Revue ach äeux
irwirÄes ihre Besprechung der gegenwärtigen europäischen Situation. Wer nur
einige Tage lang französische Octoberluft vom Jahre 1867 einzuathmen Ge¬
legenheit gehabt hat, wird einräumen, daß dieser Ausspruch in der That das
Geheimniß der gegenwärtigen Lage Frankreichs mit merkwürdiger Prägnanz
zusammenfaßt, und daß die Rathlosigkeit, von welcher derselbe Zeugniß ablegt,
dem aufmerksamen wie dem unaufmerksamer Beobachter französischer Zustände
der Gegenwart auf Schritt und Tritt begegnet. Das Verhältniß Frankreichs
zu Deutschland ist begreiflicher Weise der Hauptgegenstand der pariser Berchte,
welche unsere deutschen Zeitungen ausfüllen, und wer ein Journal der Haupt¬
stadt des Westens zur Hand nimmt, sieht dasselbe zunächst darauf an, ob es
freundlich oder feindlich über die Dinge urtheilt, welche sich diesseit des Rheins
vollziehen, ob Krieg oder Frieden die Losung des nächsten Frühjahrs sein werbe.
Und dennoch scheint uns, als habe die Frage nach der Stimmung, welche Frank¬
reich seinen Nachbarn gegenüber hegt, ein blos untergeordnetes Interesse im
Vergleich zu der Frage nach dem Verhältniß der französischen Nation zu sich
selbst. Wohl versteht es sich von selbst, daß dem deutschen Patrioten an Frank¬
reich für den Augenblick nichts wichtiger ist, als sein Verhältniß zu Deutsch
land; die Zeiten sind vorüber, in denen der Deutsche als philosophirender Aller-
weltsmann die Dinge „rein objectiv", von einem „höhern Standpunkt" ansah
und weil er daheim nichts zu verlieren hatte, nicht darnach zu fragen brauchte,
welche seiner eigenen Interessen bei einer Veränderung der Weltlage ins Spiel
kommen könnten. Nichts desto weniger glauben wir, daß die Frage nach Frank¬
reichs nächster Zukunft falsch gestellt ist, wenn man sie in die Alternative:
- »Krieg oder Frieden mit Deutschland" zusammenfaßt. Ein mal läßt sich für
uns von den französischen Zuständen der Gegenwart, auch abgesehen von des
dritten Napoleon nächsten Entschließungen, außerordentlich viel lernen und zwei-
tens wird die Frage, ob Frankreich mit sich selbst Frieden schließen und zur
Ruhe kommen wnd, zugleich dafür entscheidend sein, ob die Adler des zweiten
Kaiserreichs über den Rhein getragen werden oder zu Hause bleiben.

Die Phrase „auswärtiger Krieg oder innere Freiheit" ist unzählige
Male wiederholt worden. Daß diese Alternative so frech und offen aufgestellt


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[0155] Politische Rundschau. (Die innere Lage Frankreichs.) X „Wir wissen selbst nicht, was wir mit uns anfangen sollen." Mit diesem wunderlichen Bekenntniß beginnt die October-Rundschau der Revue ach äeux irwirÄes ihre Besprechung der gegenwärtigen europäischen Situation. Wer nur einige Tage lang französische Octoberluft vom Jahre 1867 einzuathmen Ge¬ legenheit gehabt hat, wird einräumen, daß dieser Ausspruch in der That das Geheimniß der gegenwärtigen Lage Frankreichs mit merkwürdiger Prägnanz zusammenfaßt, und daß die Rathlosigkeit, von welcher derselbe Zeugniß ablegt, dem aufmerksamen wie dem unaufmerksamer Beobachter französischer Zustände der Gegenwart auf Schritt und Tritt begegnet. Das Verhältniß Frankreichs zu Deutschland ist begreiflicher Weise der Hauptgegenstand der pariser Berchte, welche unsere deutschen Zeitungen ausfüllen, und wer ein Journal der Haupt¬ stadt des Westens zur Hand nimmt, sieht dasselbe zunächst darauf an, ob es freundlich oder feindlich über die Dinge urtheilt, welche sich diesseit des Rheins vollziehen, ob Krieg oder Frieden die Losung des nächsten Frühjahrs sein werbe. Und dennoch scheint uns, als habe die Frage nach der Stimmung, welche Frank¬ reich seinen Nachbarn gegenüber hegt, ein blos untergeordnetes Interesse im Vergleich zu der Frage nach dem Verhältniß der französischen Nation zu sich selbst. Wohl versteht es sich von selbst, daß dem deutschen Patrioten an Frank¬ reich für den Augenblick nichts wichtiger ist, als sein Verhältniß zu Deutsch land; die Zeiten sind vorüber, in denen der Deutsche als philosophirender Aller- weltsmann die Dinge „rein objectiv", von einem „höhern Standpunkt" ansah und weil er daheim nichts zu verlieren hatte, nicht darnach zu fragen brauchte, welche seiner eigenen Interessen bei einer Veränderung der Weltlage ins Spiel kommen könnten. Nichts desto weniger glauben wir, daß die Frage nach Frank¬ reichs nächster Zukunft falsch gestellt ist, wenn man sie in die Alternative: - »Krieg oder Frieden mit Deutschland" zusammenfaßt. Ein mal läßt sich für uns von den französischen Zuständen der Gegenwart, auch abgesehen von des dritten Napoleon nächsten Entschließungen, außerordentlich viel lernen und zwei- tens wird die Frage, ob Frankreich mit sich selbst Frieden schließen und zur Ruhe kommen wnd, zugleich dafür entscheidend sein, ob die Adler des zweiten Kaiserreichs über den Rhein getragen werden oder zu Hause bleiben. Die Phrase „auswärtiger Krieg oder innere Freiheit" ist unzählige Male wiederholt worden. Daß diese Alternative so frech und offen aufgestellt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/155>, abgerufen am 26.04.2024.