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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Ein östreichischer Satiriker aus dem Ende des 13. Jahrhunderts
(der sogenannt"? Seifried Helbling).

Unter den geschichtlichen Quellen nehmen die satirischen Gedichte eine
eigenthümliche und nicht unbedeutende Stelle ein. Da die Satire die Wirk¬
lichkeit schildert mit der Absicht zu tadeln, so liegt es in ihrem Wesen, daß
sie möglichst auf die Einzelheiten eingeht, daß sie Personen, Ereignisse, Zu¬
stände in den kleinen, äußerlichen Zügen darstellt, welche die absichtlich
zum geschichtlichen Zeugniß aufgesetzten Urkunden und Berichte übergehen.
Für die Zeitgenossen bestimmt, kann die Satire wohl übertriebenes, verzerr¬
tes, nicht aber völlig unwahres und unmögliches berichten: dem Nachkommen
gewährt sie daher einen unschätzbaren Einblick in das Kleinleben der Geschichte.

Diesen Werth dürfen auch die Gedichte beanspruchen, welche hier bespro¬
chen werden sollen.*) Sie führen uns mit großer Treue und Breite ein
Stück der deutschen Geschichte in seinen Persönlichkeiten, seinen Stimmungen,
seinen Zuständen vor. Dabei verschlägt es nicht viel, daß die allerdings
zuerst aufstoßende Frage nach dem Namen des Dichters noch nicht beant¬
wortet werden kann. Denn das wichtigste an diesen Gedichten ist eben nicht
die Persönlichkeit des Verfassers, sondern sein Gegenstand, der geschichtliche
Kreis, dem er angehört, seine Zeit und seine Heimath. Und hierüber sind
wir zur Genüge unterrichtet. Unser Dichter war ein Oestreicher und er dichtete
in den letzten zwei Jahrzehnten des dreizehnten Jahrhunderts. Vergegen¬
wärtigen wir uns zunächst mit wenigen Zügen die Ereignisse, welche dieser
Zeit vorausgingen und die Entwicklung Oestreichs in ihr bedingten.

Als im Jahre 1273 Graf Rudolph von Habsburg zum deutschen König
erwählt wurde, sah es bekanntlich in Deutschland sehr trüb aus. Die deutsche
Nation, eben noch in den Kreuzzügen des Rothbarts und Friedrich II. als



") Sie sind herausgegeben von Th. v, Karajan in M, Haupts Zeitschrift für deutsches
Alterthum 4, 1--284; vergl, auch 13, 464: Eine Anzahl Stellen hat G, Freytag in seinen
Bildern aus der deutschen Vergangenheit II, 1. "Vom Mittelalter zur Neuzeit" benutzt. Hier
sollen die fünfzehn Gedichte zwar nicht erschöpfend mitgetheilt und behandelt, aber doch in
ihren Grundzügen und ihrer Entwicklung dargestellt und durch Proben charakterisirt werden.
Grenzboten I. 18V8. 41
Ein östreichischer Satiriker aus dem Ende des 13. Jahrhunderts
(der sogenannt"? Seifried Helbling).

Unter den geschichtlichen Quellen nehmen die satirischen Gedichte eine
eigenthümliche und nicht unbedeutende Stelle ein. Da die Satire die Wirk¬
lichkeit schildert mit der Absicht zu tadeln, so liegt es in ihrem Wesen, daß
sie möglichst auf die Einzelheiten eingeht, daß sie Personen, Ereignisse, Zu¬
stände in den kleinen, äußerlichen Zügen darstellt, welche die absichtlich
zum geschichtlichen Zeugniß aufgesetzten Urkunden und Berichte übergehen.
Für die Zeitgenossen bestimmt, kann die Satire wohl übertriebenes, verzerr¬
tes, nicht aber völlig unwahres und unmögliches berichten: dem Nachkommen
gewährt sie daher einen unschätzbaren Einblick in das Kleinleben der Geschichte.

Diesen Werth dürfen auch die Gedichte beanspruchen, welche hier bespro¬
chen werden sollen.*) Sie führen uns mit großer Treue und Breite ein
Stück der deutschen Geschichte in seinen Persönlichkeiten, seinen Stimmungen,
seinen Zuständen vor. Dabei verschlägt es nicht viel, daß die allerdings
zuerst aufstoßende Frage nach dem Namen des Dichters noch nicht beant¬
wortet werden kann. Denn das wichtigste an diesen Gedichten ist eben nicht
die Persönlichkeit des Verfassers, sondern sein Gegenstand, der geschichtliche
Kreis, dem er angehört, seine Zeit und seine Heimath. Und hierüber sind
wir zur Genüge unterrichtet. Unser Dichter war ein Oestreicher und er dichtete
in den letzten zwei Jahrzehnten des dreizehnten Jahrhunderts. Vergegen¬
wärtigen wir uns zunächst mit wenigen Zügen die Ereignisse, welche dieser
Zeit vorausgingen und die Entwicklung Oestreichs in ihr bedingten.

Als im Jahre 1273 Graf Rudolph von Habsburg zum deutschen König
erwählt wurde, sah es bekanntlich in Deutschland sehr trüb aus. Die deutsche
Nation, eben noch in den Kreuzzügen des Rothbarts und Friedrich II. als



") Sie sind herausgegeben von Th. v, Karajan in M, Haupts Zeitschrift für deutsches
Alterthum 4, 1—284; vergl, auch 13, 464: Eine Anzahl Stellen hat G, Freytag in seinen
Bildern aus der deutschen Vergangenheit II, 1. „Vom Mittelalter zur Neuzeit" benutzt. Hier
sollen die fünfzehn Gedichte zwar nicht erschöpfend mitgetheilt und behandelt, aber doch in
ihren Grundzügen und ihrer Entwicklung dargestellt und durch Proben charakterisirt werden.
Grenzboten I. 18V8. 41
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[0329] Ein östreichischer Satiriker aus dem Ende des 13. Jahrhunderts (der sogenannt"? Seifried Helbling). Unter den geschichtlichen Quellen nehmen die satirischen Gedichte eine eigenthümliche und nicht unbedeutende Stelle ein. Da die Satire die Wirk¬ lichkeit schildert mit der Absicht zu tadeln, so liegt es in ihrem Wesen, daß sie möglichst auf die Einzelheiten eingeht, daß sie Personen, Ereignisse, Zu¬ stände in den kleinen, äußerlichen Zügen darstellt, welche die absichtlich zum geschichtlichen Zeugniß aufgesetzten Urkunden und Berichte übergehen. Für die Zeitgenossen bestimmt, kann die Satire wohl übertriebenes, verzerr¬ tes, nicht aber völlig unwahres und unmögliches berichten: dem Nachkommen gewährt sie daher einen unschätzbaren Einblick in das Kleinleben der Geschichte. Diesen Werth dürfen auch die Gedichte beanspruchen, welche hier bespro¬ chen werden sollen.*) Sie führen uns mit großer Treue und Breite ein Stück der deutschen Geschichte in seinen Persönlichkeiten, seinen Stimmungen, seinen Zuständen vor. Dabei verschlägt es nicht viel, daß die allerdings zuerst aufstoßende Frage nach dem Namen des Dichters noch nicht beant¬ wortet werden kann. Denn das wichtigste an diesen Gedichten ist eben nicht die Persönlichkeit des Verfassers, sondern sein Gegenstand, der geschichtliche Kreis, dem er angehört, seine Zeit und seine Heimath. Und hierüber sind wir zur Genüge unterrichtet. Unser Dichter war ein Oestreicher und er dichtete in den letzten zwei Jahrzehnten des dreizehnten Jahrhunderts. Vergegen¬ wärtigen wir uns zunächst mit wenigen Zügen die Ereignisse, welche dieser Zeit vorausgingen und die Entwicklung Oestreichs in ihr bedingten. Als im Jahre 1273 Graf Rudolph von Habsburg zum deutschen König erwählt wurde, sah es bekanntlich in Deutschland sehr trüb aus. Die deutsche Nation, eben noch in den Kreuzzügen des Rothbarts und Friedrich II. als ") Sie sind herausgegeben von Th. v, Karajan in M, Haupts Zeitschrift für deutsches Alterthum 4, 1—284; vergl, auch 13, 464: Eine Anzahl Stellen hat G, Freytag in seinen Bildern aus der deutschen Vergangenheit II, 1. „Vom Mittelalter zur Neuzeit" benutzt. Hier sollen die fünfzehn Gedichte zwar nicht erschöpfend mitgetheilt und behandelt, aber doch in ihren Grundzügen und ihrer Entwicklung dargestellt und durch Proben charakterisirt werden. Grenzboten I. 18V8. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/329>, abgerufen am 05.05.2024.