Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Holtzendorff's Principien der Politik.

Principien der Politik von Prof. v. Holtzendorff. Berlin 186? bei Charisius.

Das in der Ueberschrift erwähnte neueste Werk Holtzendorff's ist ge¬
wissermaßen ein Ergebniß der politischen Umwälzungen des Jahres 1866 zu
nennen. Weniger als ein ungefähr gleichzeitig erschienenes Werk verwandten
Inhalts übt es eine unmittelbare Kritik unserer jüngsten Vergangenheit und
der in ihr hervorgetretenen Gegensätze, aber gleichwohl ist es mit derselben
innig verknüpft. Nicht in dem Sinn, als ob die theoretischen Schlußfolge¬
rungen des Verfassers aus dem Verlauf der Begebenheiten hervorgewachsen,
unmittelbare Producte derselben darstellten, -- die ganze Anlage des Werks
ist von größerem wissenschaftlichen Wurf und unverkennbar die Frucht einer
selbständigen und lange gereiften Gedankenarbeit. Aber den äußeren An¬
stoß zum Abschluß derselben vermuthen wir in der Rückwirkung der That¬
sachen, welche die Geschichte der letzten Jahre zu verzeichnen hatte. Dafür
spricht nicht allein die stete Bezugnahme auf dieselben, sondern die einfache
Erfahrung, daß der Schriftsteller sein privates Interesse an einem Gegenstand
in demselben Maße gesteigert fühlt, als sich die öffentliche Theilnahme dem¬
selben zuwendet.

"Principien der Politik" -- wie lange ist es, daß man überhaupt von
einer Politik in Deutschland als von einer bestimmbaren Größe reden kann?
Lassen wir die Kleinstaaten außer Erwägung, sehen wir auf Preußen Als
den Träger der staatlichen Entwickelung Deutschlands, so konnte gerade
von diesem Staat vor noch nicht allzulanger Zeit das Wort eines östreichi¬
schen Staatsmannes als begründet gelten: die preußische Politik leide vor
allen Dingen an dem einen Fehler, daß sie gar keine Politik sei. Seit jener
Zeit, seit den Tagen von Warschau und Olmütz hat sie sich wenigstens mit
einem Inhalt, wenn auch -- nach der Sprechweise der Partikularisten --
mit einem "unsittlichen" erfüllt, sie hat sich mit Fleisch und Bein bekleidet
und der Gedankenrichiung der Nation ein Programm entworfen, welches
diese vielleicht ändern und umarbeiten, aber nicht mehr aus ihrer Entwicke¬
lungsgeschichte ausstreichen kann.

Freilich gerade die neueste Wendung der Geschicke des preußischen Staa¬
tes scheint wenigstens in einer Hinsicht nicht ermuthigend für den Versuch
einer Begründung der Politik als Wissenschaft wirken zu können. Ge¬
tragen von der machtvollen Individualität einer einzelnen Persönlichkeit
scheint sie der Meinung derjenigen Recht zu geben, welche, wie z. B. Bluntschli,


Holtzendorff's Principien der Politik.

Principien der Politik von Prof. v. Holtzendorff. Berlin 186? bei Charisius.

Das in der Ueberschrift erwähnte neueste Werk Holtzendorff's ist ge¬
wissermaßen ein Ergebniß der politischen Umwälzungen des Jahres 1866 zu
nennen. Weniger als ein ungefähr gleichzeitig erschienenes Werk verwandten
Inhalts übt es eine unmittelbare Kritik unserer jüngsten Vergangenheit und
der in ihr hervorgetretenen Gegensätze, aber gleichwohl ist es mit derselben
innig verknüpft. Nicht in dem Sinn, als ob die theoretischen Schlußfolge¬
rungen des Verfassers aus dem Verlauf der Begebenheiten hervorgewachsen,
unmittelbare Producte derselben darstellten, — die ganze Anlage des Werks
ist von größerem wissenschaftlichen Wurf und unverkennbar die Frucht einer
selbständigen und lange gereiften Gedankenarbeit. Aber den äußeren An¬
stoß zum Abschluß derselben vermuthen wir in der Rückwirkung der That¬
sachen, welche die Geschichte der letzten Jahre zu verzeichnen hatte. Dafür
spricht nicht allein die stete Bezugnahme auf dieselben, sondern die einfache
Erfahrung, daß der Schriftsteller sein privates Interesse an einem Gegenstand
in demselben Maße gesteigert fühlt, als sich die öffentliche Theilnahme dem¬
selben zuwendet.

„Principien der Politik" — wie lange ist es, daß man überhaupt von
einer Politik in Deutschland als von einer bestimmbaren Größe reden kann?
Lassen wir die Kleinstaaten außer Erwägung, sehen wir auf Preußen Als
den Träger der staatlichen Entwickelung Deutschlands, so konnte gerade
von diesem Staat vor noch nicht allzulanger Zeit das Wort eines östreichi¬
schen Staatsmannes als begründet gelten: die preußische Politik leide vor
allen Dingen an dem einen Fehler, daß sie gar keine Politik sei. Seit jener
Zeit, seit den Tagen von Warschau und Olmütz hat sie sich wenigstens mit
einem Inhalt, wenn auch — nach der Sprechweise der Partikularisten —
mit einem „unsittlichen" erfüllt, sie hat sich mit Fleisch und Bein bekleidet
und der Gedankenrichiung der Nation ein Programm entworfen, welches
diese vielleicht ändern und umarbeiten, aber nicht mehr aus ihrer Entwicke¬
lungsgeschichte ausstreichen kann.

Freilich gerade die neueste Wendung der Geschicke des preußischen Staa¬
tes scheint wenigstens in einer Hinsicht nicht ermuthigend für den Versuch
einer Begründung der Politik als Wissenschaft wirken zu können. Ge¬
tragen von der machtvollen Individualität einer einzelnen Persönlichkeit
scheint sie der Meinung derjenigen Recht zu geben, welche, wie z. B. Bluntschli,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0026" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/120713"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Holtzendorff's Principien der Politik.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_56"> Principien der Politik von Prof. v. Holtzendorff. Berlin 186? bei Charisius.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_57"> Das in der Ueberschrift erwähnte neueste Werk Holtzendorff's ist ge¬<lb/>
wissermaßen ein Ergebniß der politischen Umwälzungen des Jahres 1866 zu<lb/>
nennen. Weniger als ein ungefähr gleichzeitig erschienenes Werk verwandten<lb/>
Inhalts übt es eine unmittelbare Kritik unserer jüngsten Vergangenheit und<lb/>
der in ihr hervorgetretenen Gegensätze, aber gleichwohl ist es mit derselben<lb/>
innig verknüpft. Nicht in dem Sinn, als ob die theoretischen Schlußfolge¬<lb/>
rungen des Verfassers aus dem Verlauf der Begebenheiten hervorgewachsen,<lb/>
unmittelbare Producte derselben darstellten, &#x2014; die ganze Anlage des Werks<lb/>
ist von größerem wissenschaftlichen Wurf und unverkennbar die Frucht einer<lb/>
selbständigen und lange gereiften Gedankenarbeit. Aber den äußeren An¬<lb/>
stoß zum Abschluß derselben vermuthen wir in der Rückwirkung der That¬<lb/>
sachen, welche die Geschichte der letzten Jahre zu verzeichnen hatte. Dafür<lb/>
spricht nicht allein die stete Bezugnahme auf dieselben, sondern die einfache<lb/>
Erfahrung, daß der Schriftsteller sein privates Interesse an einem Gegenstand<lb/>
in demselben Maße gesteigert fühlt, als sich die öffentliche Theilnahme dem¬<lb/>
selben zuwendet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_58"> &#x201E;Principien der Politik" &#x2014; wie lange ist es, daß man überhaupt von<lb/>
einer Politik in Deutschland als von einer bestimmbaren Größe reden kann?<lb/>
Lassen wir die Kleinstaaten außer Erwägung, sehen wir auf Preußen Als<lb/>
den Träger der staatlichen Entwickelung Deutschlands, so konnte gerade<lb/>
von diesem Staat vor noch nicht allzulanger Zeit das Wort eines östreichi¬<lb/>
schen Staatsmannes als begründet gelten: die preußische Politik leide vor<lb/>
allen Dingen an dem einen Fehler, daß sie gar keine Politik sei. Seit jener<lb/>
Zeit, seit den Tagen von Warschau und Olmütz hat sie sich wenigstens mit<lb/>
einem Inhalt, wenn auch &#x2014; nach der Sprechweise der Partikularisten &#x2014;<lb/>
mit einem &#x201E;unsittlichen" erfüllt, sie hat sich mit Fleisch und Bein bekleidet<lb/>
und der Gedankenrichiung der Nation ein Programm entworfen, welches<lb/>
diese vielleicht ändern und umarbeiten, aber nicht mehr aus ihrer Entwicke¬<lb/>
lungsgeschichte ausstreichen kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_59" next="#ID_60"> Freilich gerade die neueste Wendung der Geschicke des preußischen Staa¬<lb/>
tes scheint wenigstens in einer Hinsicht nicht ermuthigend für den Versuch<lb/>
einer Begründung der Politik als Wissenschaft wirken zu können. Ge¬<lb/>
tragen von der machtvollen Individualität einer einzelnen Persönlichkeit<lb/>
scheint sie der Meinung derjenigen Recht zu geben, welche, wie z. B. Bluntschli,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0026] Holtzendorff's Principien der Politik. Principien der Politik von Prof. v. Holtzendorff. Berlin 186? bei Charisius. Das in der Ueberschrift erwähnte neueste Werk Holtzendorff's ist ge¬ wissermaßen ein Ergebniß der politischen Umwälzungen des Jahres 1866 zu nennen. Weniger als ein ungefähr gleichzeitig erschienenes Werk verwandten Inhalts übt es eine unmittelbare Kritik unserer jüngsten Vergangenheit und der in ihr hervorgetretenen Gegensätze, aber gleichwohl ist es mit derselben innig verknüpft. Nicht in dem Sinn, als ob die theoretischen Schlußfolge¬ rungen des Verfassers aus dem Verlauf der Begebenheiten hervorgewachsen, unmittelbare Producte derselben darstellten, — die ganze Anlage des Werks ist von größerem wissenschaftlichen Wurf und unverkennbar die Frucht einer selbständigen und lange gereiften Gedankenarbeit. Aber den äußeren An¬ stoß zum Abschluß derselben vermuthen wir in der Rückwirkung der That¬ sachen, welche die Geschichte der letzten Jahre zu verzeichnen hatte. Dafür spricht nicht allein die stete Bezugnahme auf dieselben, sondern die einfache Erfahrung, daß der Schriftsteller sein privates Interesse an einem Gegenstand in demselben Maße gesteigert fühlt, als sich die öffentliche Theilnahme dem¬ selben zuwendet. „Principien der Politik" — wie lange ist es, daß man überhaupt von einer Politik in Deutschland als von einer bestimmbaren Größe reden kann? Lassen wir die Kleinstaaten außer Erwägung, sehen wir auf Preußen Als den Träger der staatlichen Entwickelung Deutschlands, so konnte gerade von diesem Staat vor noch nicht allzulanger Zeit das Wort eines östreichi¬ schen Staatsmannes als begründet gelten: die preußische Politik leide vor allen Dingen an dem einen Fehler, daß sie gar keine Politik sei. Seit jener Zeit, seit den Tagen von Warschau und Olmütz hat sie sich wenigstens mit einem Inhalt, wenn auch — nach der Sprechweise der Partikularisten — mit einem „unsittlichen" erfüllt, sie hat sich mit Fleisch und Bein bekleidet und der Gedankenrichiung der Nation ein Programm entworfen, welches diese vielleicht ändern und umarbeiten, aber nicht mehr aus ihrer Entwicke¬ lungsgeschichte ausstreichen kann. Freilich gerade die neueste Wendung der Geschicke des preußischen Staa¬ tes scheint wenigstens in einer Hinsicht nicht ermuthigend für den Versuch einer Begründung der Politik als Wissenschaft wirken zu können. Ge¬ tragen von der machtvollen Individualität einer einzelnen Persönlichkeit scheint sie der Meinung derjenigen Recht zu geben, welche, wie z. B. Bluntschli,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/26
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/26>, abgerufen am 04.05.2024.