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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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es begreiflich, daß man wohl die persönliche Freiheit, aber nicht die Gleichbe¬
rechtigung der untern Stände anerkennen will.

Unsere Liberalen müssen aber einsehen lernen, daß ein gutes Einvernehmen
mit den Deutschen zur Besserung der eigenen Zustände dringend nöthig ist;
daß die durch übertriebene Preußenfurcht so hoch aufgeschraubten Ausgaben
für Militärzwecke bedeutend ermäßigt werden können; daß innigere Be¬
ziehungen zu unseren Nachbarn unserem verwelkenden Handel wieder neue
Lebenskräfte zuführen müssen, und daß es unverständig ist, dem freundschaft¬
lichen Entgegenkommen Deutschlands mit Mißtrauen zu begegnen. Unsere
Aufgabe ist, die gesunkene Energie des Volkes und damit Handel und
Industrie zu heben, die niedern Klassen durch Unterricht und Zucht soweit
zu bringen, daß auch sie wenigstens einen Begriff von politischen Dingen
bekommen und sich im Allgemeinen um höhere, als die materiellen Interessen
bekümmern -- aber nicht dem Volke Mißtrauen und Haß gegen unsere Nach¬
barn einzuflößen, von deren gutem Willen doch die Ruhe abhängig ist, deren
wir zur Erfüllung dieser Aufgabe so sehr bedürfen.




Polnischer Monatsbericht.

X

Der politischen Ebbe, welche während der Sommermonate von Woche
zu Woche zuzunehmen schien, ist seit dem Beginn des Octobers eine Art
Hochflut!) gefolgt. Für jeden der größeren Staaten Mitteleuropas hat der
Zeitraum, auf den wir zurückzusehen haben, irgend ein Ereigniß gebracht,
von dem sich Folgen erwarten lassen, und wollte man den Versicherungen
der heißblütigen Tagespolitiker Glauben schenken, welche die Wichtigkeit der
Dinge nach dem Maß dessen bestimmen, was über sie gesagt wird oder ge¬
sagt werden kann, so befinden wir uns seit dem Beginn des October in
einer vollständig veränderten Situation. Wie sehr die gegenwärtigen Ver¬
hältnisse unseres Welttheils den Charakter bloßer Provisorien tragen, geht
schon aus der Leichtblütigkeit der öffentlichen Meinung hervor, welche
die geringfügigsten Vorgänge für Symptome von Umgestaltungen ansieht,
über deren Unmöglichkeit man noch wenige Tage früher einig gewesen war.
Aus dem Wiener Besuch des Kronprinzen von Preußen und der ein¬
fachen Thatsache, daß Oestreich sich am russischen Hof wieder durch einen
Botschafter vertreten läßt, haben dieselben Leute, die vor vier Wochen von


es begreiflich, daß man wohl die persönliche Freiheit, aber nicht die Gleichbe¬
rechtigung der untern Stände anerkennen will.

Unsere Liberalen müssen aber einsehen lernen, daß ein gutes Einvernehmen
mit den Deutschen zur Besserung der eigenen Zustände dringend nöthig ist;
daß die durch übertriebene Preußenfurcht so hoch aufgeschraubten Ausgaben
für Militärzwecke bedeutend ermäßigt werden können; daß innigere Be¬
ziehungen zu unseren Nachbarn unserem verwelkenden Handel wieder neue
Lebenskräfte zuführen müssen, und daß es unverständig ist, dem freundschaft¬
lichen Entgegenkommen Deutschlands mit Mißtrauen zu begegnen. Unsere
Aufgabe ist, die gesunkene Energie des Volkes und damit Handel und
Industrie zu heben, die niedern Klassen durch Unterricht und Zucht soweit
zu bringen, daß auch sie wenigstens einen Begriff von politischen Dingen
bekommen und sich im Allgemeinen um höhere, als die materiellen Interessen
bekümmern — aber nicht dem Volke Mißtrauen und Haß gegen unsere Nach¬
barn einzuflößen, von deren gutem Willen doch die Ruhe abhängig ist, deren
wir zur Erfüllung dieser Aufgabe so sehr bedürfen.




Polnischer Monatsbericht.

X

Der politischen Ebbe, welche während der Sommermonate von Woche
zu Woche zuzunehmen schien, ist seit dem Beginn des Octobers eine Art
Hochflut!) gefolgt. Für jeden der größeren Staaten Mitteleuropas hat der
Zeitraum, auf den wir zurückzusehen haben, irgend ein Ereigniß gebracht,
von dem sich Folgen erwarten lassen, und wollte man den Versicherungen
der heißblütigen Tagespolitiker Glauben schenken, welche die Wichtigkeit der
Dinge nach dem Maß dessen bestimmen, was über sie gesagt wird oder ge¬
sagt werden kann, so befinden wir uns seit dem Beginn des October in
einer vollständig veränderten Situation. Wie sehr die gegenwärtigen Ver¬
hältnisse unseres Welttheils den Charakter bloßer Provisorien tragen, geht
schon aus der Leichtblütigkeit der öffentlichen Meinung hervor, welche
die geringfügigsten Vorgänge für Symptome von Umgestaltungen ansieht,
über deren Unmöglichkeit man noch wenige Tage früher einig gewesen war.
Aus dem Wiener Besuch des Kronprinzen von Preußen und der ein¬
fachen Thatsache, daß Oestreich sich am russischen Hof wieder durch einen
Botschafter vertreten läßt, haben dieselben Leute, die vor vier Wochen von


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[0194] es begreiflich, daß man wohl die persönliche Freiheit, aber nicht die Gleichbe¬ rechtigung der untern Stände anerkennen will. Unsere Liberalen müssen aber einsehen lernen, daß ein gutes Einvernehmen mit den Deutschen zur Besserung der eigenen Zustände dringend nöthig ist; daß die durch übertriebene Preußenfurcht so hoch aufgeschraubten Ausgaben für Militärzwecke bedeutend ermäßigt werden können; daß innigere Be¬ ziehungen zu unseren Nachbarn unserem verwelkenden Handel wieder neue Lebenskräfte zuführen müssen, und daß es unverständig ist, dem freundschaft¬ lichen Entgegenkommen Deutschlands mit Mißtrauen zu begegnen. Unsere Aufgabe ist, die gesunkene Energie des Volkes und damit Handel und Industrie zu heben, die niedern Klassen durch Unterricht und Zucht soweit zu bringen, daß auch sie wenigstens einen Begriff von politischen Dingen bekommen und sich im Allgemeinen um höhere, als die materiellen Interessen bekümmern — aber nicht dem Volke Mißtrauen und Haß gegen unsere Nach¬ barn einzuflößen, von deren gutem Willen doch die Ruhe abhängig ist, deren wir zur Erfüllung dieser Aufgabe so sehr bedürfen. Polnischer Monatsbericht. X Der politischen Ebbe, welche während der Sommermonate von Woche zu Woche zuzunehmen schien, ist seit dem Beginn des Octobers eine Art Hochflut!) gefolgt. Für jeden der größeren Staaten Mitteleuropas hat der Zeitraum, auf den wir zurückzusehen haben, irgend ein Ereigniß gebracht, von dem sich Folgen erwarten lassen, und wollte man den Versicherungen der heißblütigen Tagespolitiker Glauben schenken, welche die Wichtigkeit der Dinge nach dem Maß dessen bestimmen, was über sie gesagt wird oder ge¬ sagt werden kann, so befinden wir uns seit dem Beginn des October in einer vollständig veränderten Situation. Wie sehr die gegenwärtigen Ver¬ hältnisse unseres Welttheils den Charakter bloßer Provisorien tragen, geht schon aus der Leichtblütigkeit der öffentlichen Meinung hervor, welche die geringfügigsten Vorgänge für Symptome von Umgestaltungen ansieht, über deren Unmöglichkeit man noch wenige Tage früher einig gewesen war. Aus dem Wiener Besuch des Kronprinzen von Preußen und der ein¬ fachen Thatsache, daß Oestreich sich am russischen Hof wieder durch einen Botschafter vertreten läßt, haben dieselben Leute, die vor vier Wochen von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/194>, abgerufen am 27.04.2024.