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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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mus Senckenberg ausgebildet haben, gehört, und daß sie es verdiente, in
einem seiner Libelle zu figuriren. wird ihr Niemand streitig machen.




Gitter aus der deutschen Kleinstaaterei.

Von Karl Braun-Wiesbaden. Zwei Bände. Leipzig, Otto Wi gard 1869.

Es ist zu befürchten, daß in unserer so entsetzlich ernsthaften Zeit eine
ergiebige Fundgrube des Humors allmälig erlöschen werde, nämlich die Klein¬
staaterei. Freilich, wenn die Literatur mit ihr Abrechnung halten wollte, so
würde -- trotz Weimar's Musentempel -- nicht lauter Benefiz zu hundelt
sein. Der culturhistorische Romain hat bislang darunter gelitten, daß ihm
der selbstverständliche Mittelpunkt des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens
fehlte. Ob die Engländer und die Franzosen ihre Thackeray und Dickens,
ihre Balzac und George Sand vorzugsweise dem hauptstädtischen Leben, sei¬
nen größeren Dimensionen und allgemein giltigen, scharf bestimmten Normen
verdanken, mag bezweifelt werden, -- jedenfalls wurde ihnen durch den ge¬
gebenen und allseitig bekannten Hintergrund der Zeitroman viel näher ge-
rücktundleichter gemacht, als unseren deutschen Dichtern der Gegenwart. Jene
brauchten nicht Höfe und Staaten zu construiren, nach deren Urbild der
Leser schwankend umherrieth, nicht ohne das Lächerliche neben dem Erhabenen
zu finden. Dagegen fand sich die Komik bei uns um so leichter zurecht:
überall war Flachsenfingen, und Jean Paul's keckste Phantasie konnte
keinen Zug erfinden, der von der Wirklichkeit nicht vielfach übertroffen ward.
Nicht blos in den Kleinstaaten war Flachsenfingen, auch in den größeren
und größten spiegelten sich die Modelle aus der Flachsenfinger Rumpel¬
kammer, denn der Kleinstaat war das Urbild des modernen deutschen Staats
gewesen, er saß tief in der mückenseigenden Bureaukratie drin, und nicht der
Liberalismus allein, nur große nationale Bewegungen vermochten die Be¬
freiung davon anzubahnen. -- Wenn wir also jetzt hoffen dürfen, der Klein¬
staaterei in der Politik endlich Herr zu werden, so ist es in ästhetischer Be¬
ziehung desto dankenswerther, daß die Züge der Kleinstaaterei für die Archive
und Galerien der Zukunft von Meisterhand dargestellt und aufbewahrt wer-
den. wie das in Braun's lebenswahren Genrebildern geschieht. Zwar mangelt
es auch gegenwärtig noch nicht an Duodezstätlein winzigster Dimension,
aber sie stehen unter der norddeutschen Centralgewalt und der modernen
Bundesgesetzgebung; der Duodezstaat in seiner Originalverpackung, das war
der souveräne Duodezstaat unter dem weiland Bundestage. Da muß man


mus Senckenberg ausgebildet haben, gehört, und daß sie es verdiente, in
einem seiner Libelle zu figuriren. wird ihr Niemand streitig machen.




Gitter aus der deutschen Kleinstaaterei.

Von Karl Braun-Wiesbaden. Zwei Bände. Leipzig, Otto Wi gard 1869.

Es ist zu befürchten, daß in unserer so entsetzlich ernsthaften Zeit eine
ergiebige Fundgrube des Humors allmälig erlöschen werde, nämlich die Klein¬
staaterei. Freilich, wenn die Literatur mit ihr Abrechnung halten wollte, so
würde — trotz Weimar's Musentempel — nicht lauter Benefiz zu hundelt
sein. Der culturhistorische Romain hat bislang darunter gelitten, daß ihm
der selbstverständliche Mittelpunkt des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens
fehlte. Ob die Engländer und die Franzosen ihre Thackeray und Dickens,
ihre Balzac und George Sand vorzugsweise dem hauptstädtischen Leben, sei¬
nen größeren Dimensionen und allgemein giltigen, scharf bestimmten Normen
verdanken, mag bezweifelt werden, — jedenfalls wurde ihnen durch den ge¬
gebenen und allseitig bekannten Hintergrund der Zeitroman viel näher ge-
rücktundleichter gemacht, als unseren deutschen Dichtern der Gegenwart. Jene
brauchten nicht Höfe und Staaten zu construiren, nach deren Urbild der
Leser schwankend umherrieth, nicht ohne das Lächerliche neben dem Erhabenen
zu finden. Dagegen fand sich die Komik bei uns um so leichter zurecht:
überall war Flachsenfingen, und Jean Paul's keckste Phantasie konnte
keinen Zug erfinden, der von der Wirklichkeit nicht vielfach übertroffen ward.
Nicht blos in den Kleinstaaten war Flachsenfingen, auch in den größeren
und größten spiegelten sich die Modelle aus der Flachsenfinger Rumpel¬
kammer, denn der Kleinstaat war das Urbild des modernen deutschen Staats
gewesen, er saß tief in der mückenseigenden Bureaukratie drin, und nicht der
Liberalismus allein, nur große nationale Bewegungen vermochten die Be¬
freiung davon anzubahnen. — Wenn wir also jetzt hoffen dürfen, der Klein¬
staaterei in der Politik endlich Herr zu werden, so ist es in ästhetischer Be¬
ziehung desto dankenswerther, daß die Züge der Kleinstaaterei für die Archive
und Galerien der Zukunft von Meisterhand dargestellt und aufbewahrt wer-
den. wie das in Braun's lebenswahren Genrebildern geschieht. Zwar mangelt
es auch gegenwärtig noch nicht an Duodezstätlein winzigster Dimension,
aber sie stehen unter der norddeutschen Centralgewalt und der modernen
Bundesgesetzgebung; der Duodezstaat in seiner Originalverpackung, das war
der souveräne Duodezstaat unter dem weiland Bundestage. Da muß man


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[0346] mus Senckenberg ausgebildet haben, gehört, und daß sie es verdiente, in einem seiner Libelle zu figuriren. wird ihr Niemand streitig machen. Gitter aus der deutschen Kleinstaaterei. Von Karl Braun-Wiesbaden. Zwei Bände. Leipzig, Otto Wi gard 1869. Es ist zu befürchten, daß in unserer so entsetzlich ernsthaften Zeit eine ergiebige Fundgrube des Humors allmälig erlöschen werde, nämlich die Klein¬ staaterei. Freilich, wenn die Literatur mit ihr Abrechnung halten wollte, so würde — trotz Weimar's Musentempel — nicht lauter Benefiz zu hundelt sein. Der culturhistorische Romain hat bislang darunter gelitten, daß ihm der selbstverständliche Mittelpunkt des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens fehlte. Ob die Engländer und die Franzosen ihre Thackeray und Dickens, ihre Balzac und George Sand vorzugsweise dem hauptstädtischen Leben, sei¬ nen größeren Dimensionen und allgemein giltigen, scharf bestimmten Normen verdanken, mag bezweifelt werden, — jedenfalls wurde ihnen durch den ge¬ gebenen und allseitig bekannten Hintergrund der Zeitroman viel näher ge- rücktundleichter gemacht, als unseren deutschen Dichtern der Gegenwart. Jene brauchten nicht Höfe und Staaten zu construiren, nach deren Urbild der Leser schwankend umherrieth, nicht ohne das Lächerliche neben dem Erhabenen zu finden. Dagegen fand sich die Komik bei uns um so leichter zurecht: überall war Flachsenfingen, und Jean Paul's keckste Phantasie konnte keinen Zug erfinden, der von der Wirklichkeit nicht vielfach übertroffen ward. Nicht blos in den Kleinstaaten war Flachsenfingen, auch in den größeren und größten spiegelten sich die Modelle aus der Flachsenfinger Rumpel¬ kammer, denn der Kleinstaat war das Urbild des modernen deutschen Staats gewesen, er saß tief in der mückenseigenden Bureaukratie drin, und nicht der Liberalismus allein, nur große nationale Bewegungen vermochten die Be¬ freiung davon anzubahnen. — Wenn wir also jetzt hoffen dürfen, der Klein¬ staaterei in der Politik endlich Herr zu werden, so ist es in ästhetischer Be¬ ziehung desto dankenswerther, daß die Züge der Kleinstaaterei für die Archive und Galerien der Zukunft von Meisterhand dargestellt und aufbewahrt wer- den. wie das in Braun's lebenswahren Genrebildern geschieht. Zwar mangelt es auch gegenwärtig noch nicht an Duodezstätlein winzigster Dimension, aber sie stehen unter der norddeutschen Centralgewalt und der modernen Bundesgesetzgebung; der Duodezstaat in seiner Originalverpackung, das war der souveräne Duodezstaat unter dem weiland Bundestage. Da muß man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/346>, abgerufen am 28.04.2024.