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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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mag der Volksgeist der ehemaligen Reichsstadt noch in einem Herrn Guido
Weiß den correcten Ausdruck seines politischen und ethischen Instinktes finden:
ein halbes Jahrhundert später wird er darauf wie auf einen wüsten Fieber¬
traum zurückschauen. Und was von der Stadt Frankfurt gilt, gilt auch von
dem übrigen alten "Reiche". Symptome der Genesung sind ja überall vor¬
handen, aber freilich noch überwuchert durch widrige Exsudate einer Jahr¬
hunderte langen tödtlichen Vergiftung aller Lebenssäfte. Ein Localpatriot
mag diese Wahrheiten schmerzlich empfinden, aber gewiß nicht schmerzlicher,
als Jeder, der zwar nicht ein Frankfurter, aber ein deutscher Patriot ist.
Denn die Schmach und das Unglück jedes einzelnen Gliedes trifft jedes an¬
dere und bis zu einer gewissen Grenze krankt ja unsere ganze Nation an
demselben Leiden, was nur hier rückhaltloser, weil ohne heilkräftige Gegen¬
wirkungen wüthen und die Volksseele fast zerstören konnte. Zum Glück für
Deutschland gab es außer dem Reiche doch noch Einen Staat des kategori¬
schen Imperativs, den Rechtsstaat Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs des
Großen. Wäre das Reich ganz Deutschland gewesen, so gäbe es jetzt keine
deutsche Nation mehr, wie auch jetzt die Angehörigen des Reiches im höchsten
und ernsthaftesten Sinne noch nicht zu der deutschen Nation der Gegenwart
gehören, sondern ihr erst zuwachsen sollen.

Schließlich noch ein Wort für den trefflichen Verfasser dieses Buches.
Gewiß wird er damit in seiner Heimath, falls man dort zu lesen und zu
denken versteht, vielfach Anstoß erregen, obwohl er sich, oft zum Schaden der
urkundlich exacten Darstellung, alle Mühe gibt, ihn zu vermeiden. Er selbst
als ein gediegener und bewährter Kenner der Geschichte ist natürlich frei von
jenen aberwitzigen Einbildungen, wie sie dort die Sinne der Menschen zu
umnebeln pflegen, von jenen tollen Phantasien, welche man als Patholog so
leicht begreift und als Patriot so hart verurtheilen muß. Ader Niemand
wandelt ungestraft unter Palmen oder in der Frankfurter Luft. Einmal ist
es doch auch einem so verständigen, durchgebildeten und wohlgesinnten Manne
begegnet, folgende Phrase zu produciren: "Die Stadt Frankfurt ist in un¬
seren Tagen auf so unerhörte Weise verlästert worden, daß Jeder, welcher
einigermaßen in die Tiefe zu blicken vermag, einen bestimmten Plan und eine
Politische Absicht darin erkennen wird. Auch ist dasjenige, was hiermit er¬
strebt worden ist. keineswegs schwer zu entdecken." Wir unsererseits möchten
diese Tirade lieber in einer Frankfurter Zeitung, oder im "Stuttgarter Beob¬
achter", allenfalls auch in der "Sächsischen Zeitung" oder in der "Zukunft"
lesen, als in einem ernsthaften und ehrenhaften Buche. Daß wir sie nicht
verstehen, wollen wir nicht sagen; es ist ja deutlich genug, daß sie zu dem
ganzen System der Phraseologie, wie es jene ächten Nachkommen des Eras-


Grenzboten IV. 1869. 43

mag der Volksgeist der ehemaligen Reichsstadt noch in einem Herrn Guido
Weiß den correcten Ausdruck seines politischen und ethischen Instinktes finden:
ein halbes Jahrhundert später wird er darauf wie auf einen wüsten Fieber¬
traum zurückschauen. Und was von der Stadt Frankfurt gilt, gilt auch von
dem übrigen alten „Reiche". Symptome der Genesung sind ja überall vor¬
handen, aber freilich noch überwuchert durch widrige Exsudate einer Jahr¬
hunderte langen tödtlichen Vergiftung aller Lebenssäfte. Ein Localpatriot
mag diese Wahrheiten schmerzlich empfinden, aber gewiß nicht schmerzlicher,
als Jeder, der zwar nicht ein Frankfurter, aber ein deutscher Patriot ist.
Denn die Schmach und das Unglück jedes einzelnen Gliedes trifft jedes an¬
dere und bis zu einer gewissen Grenze krankt ja unsere ganze Nation an
demselben Leiden, was nur hier rückhaltloser, weil ohne heilkräftige Gegen¬
wirkungen wüthen und die Volksseele fast zerstören konnte. Zum Glück für
Deutschland gab es außer dem Reiche doch noch Einen Staat des kategori¬
schen Imperativs, den Rechtsstaat Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs des
Großen. Wäre das Reich ganz Deutschland gewesen, so gäbe es jetzt keine
deutsche Nation mehr, wie auch jetzt die Angehörigen des Reiches im höchsten
und ernsthaftesten Sinne noch nicht zu der deutschen Nation der Gegenwart
gehören, sondern ihr erst zuwachsen sollen.

Schließlich noch ein Wort für den trefflichen Verfasser dieses Buches.
Gewiß wird er damit in seiner Heimath, falls man dort zu lesen und zu
denken versteht, vielfach Anstoß erregen, obwohl er sich, oft zum Schaden der
urkundlich exacten Darstellung, alle Mühe gibt, ihn zu vermeiden. Er selbst
als ein gediegener und bewährter Kenner der Geschichte ist natürlich frei von
jenen aberwitzigen Einbildungen, wie sie dort die Sinne der Menschen zu
umnebeln pflegen, von jenen tollen Phantasien, welche man als Patholog so
leicht begreift und als Patriot so hart verurtheilen muß. Ader Niemand
wandelt ungestraft unter Palmen oder in der Frankfurter Luft. Einmal ist
es doch auch einem so verständigen, durchgebildeten und wohlgesinnten Manne
begegnet, folgende Phrase zu produciren: „Die Stadt Frankfurt ist in un¬
seren Tagen auf so unerhörte Weise verlästert worden, daß Jeder, welcher
einigermaßen in die Tiefe zu blicken vermag, einen bestimmten Plan und eine
Politische Absicht darin erkennen wird. Auch ist dasjenige, was hiermit er¬
strebt worden ist. keineswegs schwer zu entdecken." Wir unsererseits möchten
diese Tirade lieber in einer Frankfurter Zeitung, oder im „Stuttgarter Beob¬
achter", allenfalls auch in der „Sächsischen Zeitung" oder in der „Zukunft"
lesen, als in einem ernsthaften und ehrenhaften Buche. Daß wir sie nicht
verstehen, wollen wir nicht sagen; es ist ja deutlich genug, daß sie zu dem
ganzen System der Phraseologie, wie es jene ächten Nachkommen des Eras-


Grenzboten IV. 1869. 43
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[0345] mag der Volksgeist der ehemaligen Reichsstadt noch in einem Herrn Guido Weiß den correcten Ausdruck seines politischen und ethischen Instinktes finden: ein halbes Jahrhundert später wird er darauf wie auf einen wüsten Fieber¬ traum zurückschauen. Und was von der Stadt Frankfurt gilt, gilt auch von dem übrigen alten „Reiche". Symptome der Genesung sind ja überall vor¬ handen, aber freilich noch überwuchert durch widrige Exsudate einer Jahr¬ hunderte langen tödtlichen Vergiftung aller Lebenssäfte. Ein Localpatriot mag diese Wahrheiten schmerzlich empfinden, aber gewiß nicht schmerzlicher, als Jeder, der zwar nicht ein Frankfurter, aber ein deutscher Patriot ist. Denn die Schmach und das Unglück jedes einzelnen Gliedes trifft jedes an¬ dere und bis zu einer gewissen Grenze krankt ja unsere ganze Nation an demselben Leiden, was nur hier rückhaltloser, weil ohne heilkräftige Gegen¬ wirkungen wüthen und die Volksseele fast zerstören konnte. Zum Glück für Deutschland gab es außer dem Reiche doch noch Einen Staat des kategori¬ schen Imperativs, den Rechtsstaat Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs des Großen. Wäre das Reich ganz Deutschland gewesen, so gäbe es jetzt keine deutsche Nation mehr, wie auch jetzt die Angehörigen des Reiches im höchsten und ernsthaftesten Sinne noch nicht zu der deutschen Nation der Gegenwart gehören, sondern ihr erst zuwachsen sollen. Schließlich noch ein Wort für den trefflichen Verfasser dieses Buches. Gewiß wird er damit in seiner Heimath, falls man dort zu lesen und zu denken versteht, vielfach Anstoß erregen, obwohl er sich, oft zum Schaden der urkundlich exacten Darstellung, alle Mühe gibt, ihn zu vermeiden. Er selbst als ein gediegener und bewährter Kenner der Geschichte ist natürlich frei von jenen aberwitzigen Einbildungen, wie sie dort die Sinne der Menschen zu umnebeln pflegen, von jenen tollen Phantasien, welche man als Patholog so leicht begreift und als Patriot so hart verurtheilen muß. Ader Niemand wandelt ungestraft unter Palmen oder in der Frankfurter Luft. Einmal ist es doch auch einem so verständigen, durchgebildeten und wohlgesinnten Manne begegnet, folgende Phrase zu produciren: „Die Stadt Frankfurt ist in un¬ seren Tagen auf so unerhörte Weise verlästert worden, daß Jeder, welcher einigermaßen in die Tiefe zu blicken vermag, einen bestimmten Plan und eine Politische Absicht darin erkennen wird. Auch ist dasjenige, was hiermit er¬ strebt worden ist. keineswegs schwer zu entdecken." Wir unsererseits möchten diese Tirade lieber in einer Frankfurter Zeitung, oder im „Stuttgarter Beob¬ achter", allenfalls auch in der „Sächsischen Zeitung" oder in der „Zukunft" lesen, als in einem ernsthaften und ehrenhaften Buche. Daß wir sie nicht verstehen, wollen wir nicht sagen; es ist ja deutlich genug, daß sie zu dem ganzen System der Phraseologie, wie es jene ächten Nachkommen des Eras- Grenzboten IV. 1869. 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/345>, abgerufen am 13.05.2024.