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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Die Lehrfreiheit in der protestantischen Kirche.

Einer der großen Grundsätze, mit denen der Protestantenverein gegen¬
wärtig die Erneuerung der evangelischen Kirche unternimmt, die Lehrfreiheit,
ist soeben aus einer ziemlich ernsthaften thatsächlichen Prüfung siegreich her¬
vorgegangen. Die einzelnen Vorgänge sind, ein jeder zu seiner Zeit, durch
die Zeitungen bekannt geworden, verdienen aber wohl auch einmal übersicht¬
lich zusammengefaßt zu werden.

Der Schauplatz ist die Stadt Bremen, ein Gebiet, wo Lutheraner
und Reformirte zwar nicht in rechtlicher, aber in factischer Union durch ein¬
ander leben, wo aber noch keine Synodaleinrichtungen das Ganze der Kirche
konstitutionell umgestaltet haben, sondern der Senat bis jetzt fortfährt, als
"oberster Landesbischof" das absolute Kirchenregiment zu üben. Bis vor
Kurzem galt Bremen in der Christenheit dafür, eine nicht viel geringere
Stätte blühenden alt christlichen Lebens zu sein, als etwa Basel oder das
Wupperthal. Die Absetzung des lichtfreundlichen und revolutionären Pastor
Dulon -- im Anfang der vierziger Jahre -- hatte damit nichts zu thun;
sie geschah wesentlich aus politischen Gründen, im Interesse der Unabhängig¬
keit der Republik und war das Werk des alten Bürgermeisters Smidt, des
Hauptgegners der Orthodoxen und Pietisten, denen er den Daumen kräftig
aufs Auge gedrückt hielt. Dafür, daß der Senat in seiner ausgemachten
Mehrheit rationalistisch-liberal bleibe, sorgte eine feststehende Maxime bei
allen Neuwahlen. Es gab auch von jeher freisinnige, vernunftgläubige Pre¬
diger, wie z. B. den philosophischen Nagel und den gemüthsstarken, beredten
nieder. Allein im Uebrigen hatte das kirchliche Leben auf der liberalen
Seite, wenn auch immer kräftiger und frischer als anderswo unter dem Con-
fistorialjoch, doch bis vor einigen Jahren keinen rechten Zug. Erst als
gleichzeitig mit der protestantischen Erhebung in Baden und der daran sich
knüpfenden Gründung des Protestantenvereins (1863) mehrere Vacanzen durch
talentvolle junge Geistliche ausgefüllt wurden, die man sich zum Theil aus
weiter Ferne holte, namentlich aus der Schweiz, erwachte der Geist der Re¬
form in den liberalen Massen, und das Halberstorbene kirchliche Leben begann
in ihnen aufs neue gesund zu pulsiren. Der letzte dieser jungen Träger des
Fortschrittsgedankens, Pastor Schwalb, war berufen, den Anstoß zu einem
Wichtigen und entschiedenen Kampfe zu geben.

Dies freilich, ohne es im mindesten zu wollen und ohne es nur zu
ahnen. Er hielt als einer der Redner, die die Vorträge im Bremer Pro¬
testantenverein während des Winters 1867/68 übernommen hatten, Anfang


Die Lehrfreiheit in der protestantischen Kirche.

Einer der großen Grundsätze, mit denen der Protestantenverein gegen¬
wärtig die Erneuerung der evangelischen Kirche unternimmt, die Lehrfreiheit,
ist soeben aus einer ziemlich ernsthaften thatsächlichen Prüfung siegreich her¬
vorgegangen. Die einzelnen Vorgänge sind, ein jeder zu seiner Zeit, durch
die Zeitungen bekannt geworden, verdienen aber wohl auch einmal übersicht¬
lich zusammengefaßt zu werden.

Der Schauplatz ist die Stadt Bremen, ein Gebiet, wo Lutheraner
und Reformirte zwar nicht in rechtlicher, aber in factischer Union durch ein¬
ander leben, wo aber noch keine Synodaleinrichtungen das Ganze der Kirche
konstitutionell umgestaltet haben, sondern der Senat bis jetzt fortfährt, als
„oberster Landesbischof" das absolute Kirchenregiment zu üben. Bis vor
Kurzem galt Bremen in der Christenheit dafür, eine nicht viel geringere
Stätte blühenden alt christlichen Lebens zu sein, als etwa Basel oder das
Wupperthal. Die Absetzung des lichtfreundlichen und revolutionären Pastor
Dulon — im Anfang der vierziger Jahre — hatte damit nichts zu thun;
sie geschah wesentlich aus politischen Gründen, im Interesse der Unabhängig¬
keit der Republik und war das Werk des alten Bürgermeisters Smidt, des
Hauptgegners der Orthodoxen und Pietisten, denen er den Daumen kräftig
aufs Auge gedrückt hielt. Dafür, daß der Senat in seiner ausgemachten
Mehrheit rationalistisch-liberal bleibe, sorgte eine feststehende Maxime bei
allen Neuwahlen. Es gab auch von jeher freisinnige, vernunftgläubige Pre¬
diger, wie z. B. den philosophischen Nagel und den gemüthsstarken, beredten
nieder. Allein im Uebrigen hatte das kirchliche Leben auf der liberalen
Seite, wenn auch immer kräftiger und frischer als anderswo unter dem Con-
fistorialjoch, doch bis vor einigen Jahren keinen rechten Zug. Erst als
gleichzeitig mit der protestantischen Erhebung in Baden und der daran sich
knüpfenden Gründung des Protestantenvereins (1863) mehrere Vacanzen durch
talentvolle junge Geistliche ausgefüllt wurden, die man sich zum Theil aus
weiter Ferne holte, namentlich aus der Schweiz, erwachte der Geist der Re¬
form in den liberalen Massen, und das Halberstorbene kirchliche Leben begann
in ihnen aufs neue gesund zu pulsiren. Der letzte dieser jungen Träger des
Fortschrittsgedankens, Pastor Schwalb, war berufen, den Anstoß zu einem
Wichtigen und entschiedenen Kampfe zu geben.

Dies freilich, ohne es im mindesten zu wollen und ohne es nur zu
ahnen. Er hielt als einer der Redner, die die Vorträge im Bremer Pro¬
testantenverein während des Winters 1867/68 übernommen hatten, Anfang


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[0399] Die Lehrfreiheit in der protestantischen Kirche. Einer der großen Grundsätze, mit denen der Protestantenverein gegen¬ wärtig die Erneuerung der evangelischen Kirche unternimmt, die Lehrfreiheit, ist soeben aus einer ziemlich ernsthaften thatsächlichen Prüfung siegreich her¬ vorgegangen. Die einzelnen Vorgänge sind, ein jeder zu seiner Zeit, durch die Zeitungen bekannt geworden, verdienen aber wohl auch einmal übersicht¬ lich zusammengefaßt zu werden. Der Schauplatz ist die Stadt Bremen, ein Gebiet, wo Lutheraner und Reformirte zwar nicht in rechtlicher, aber in factischer Union durch ein¬ ander leben, wo aber noch keine Synodaleinrichtungen das Ganze der Kirche konstitutionell umgestaltet haben, sondern der Senat bis jetzt fortfährt, als „oberster Landesbischof" das absolute Kirchenregiment zu üben. Bis vor Kurzem galt Bremen in der Christenheit dafür, eine nicht viel geringere Stätte blühenden alt christlichen Lebens zu sein, als etwa Basel oder das Wupperthal. Die Absetzung des lichtfreundlichen und revolutionären Pastor Dulon — im Anfang der vierziger Jahre — hatte damit nichts zu thun; sie geschah wesentlich aus politischen Gründen, im Interesse der Unabhängig¬ keit der Republik und war das Werk des alten Bürgermeisters Smidt, des Hauptgegners der Orthodoxen und Pietisten, denen er den Daumen kräftig aufs Auge gedrückt hielt. Dafür, daß der Senat in seiner ausgemachten Mehrheit rationalistisch-liberal bleibe, sorgte eine feststehende Maxime bei allen Neuwahlen. Es gab auch von jeher freisinnige, vernunftgläubige Pre¬ diger, wie z. B. den philosophischen Nagel und den gemüthsstarken, beredten nieder. Allein im Uebrigen hatte das kirchliche Leben auf der liberalen Seite, wenn auch immer kräftiger und frischer als anderswo unter dem Con- fistorialjoch, doch bis vor einigen Jahren keinen rechten Zug. Erst als gleichzeitig mit der protestantischen Erhebung in Baden und der daran sich knüpfenden Gründung des Protestantenvereins (1863) mehrere Vacanzen durch talentvolle junge Geistliche ausgefüllt wurden, die man sich zum Theil aus weiter Ferne holte, namentlich aus der Schweiz, erwachte der Geist der Re¬ form in den liberalen Massen, und das Halberstorbene kirchliche Leben begann in ihnen aufs neue gesund zu pulsiren. Der letzte dieser jungen Träger des Fortschrittsgedankens, Pastor Schwalb, war berufen, den Anstoß zu einem Wichtigen und entschiedenen Kampfe zu geben. Dies freilich, ohne es im mindesten zu wollen und ohne es nur zu ahnen. Er hielt als einer der Redner, die die Vorträge im Bremer Pro¬ testantenverein während des Winters 1867/68 übernommen hatten, Anfang

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/399>, abgerufen am 28.04.2024.