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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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des Reichstags, welcher den ärztlichen Zwang beseitigte. Man hatte seither
dem Arzt Verpflichtungen unter Strafandrohungen aufgebürdet, die für seine
Stellung zum Publicum die beklagenswerthesten Uebelstände bedingten. Die
Aufhebung aller bestehenden Bestimmungen, welche den Aerzten unter An¬
drohung von Strafen einen Zwang zu ärztlicher Hilfe auferlegten, war daher
nicht nur eine logische Nothwendigkeit, hervorgegangen aus dem Beschluß
des Reichstags in Betreff der Freigabe der ärztlichen Praxis, sondern es
wird die Enthebung jener von den Aerzten schon vielfach als eine Härte be¬
zeichneten Verpflichtung von nicht geringer practischer Bedeutung sein. Die Stel¬
lung des Arztes war seither eine unfreie. Der Artikel 200 des preußischen
Strafgesetzbuchs, welcher mit einigen Abänderungen für die übrigen Staaten
Deutschlands maßgebend war, bedingte eine Beeinträchtigung der Zufrieden¬
heit und des Behagens, welche die Grundlage für die gedeihliche Entwicke¬
lung einer jeden Berufsthätigkeit bilden. Wenn auch in xraxi jener Para¬
graph höchst selten Geltung gewann, indem private Rücksichten und vor
Allem die Concurrenz das Publicum vor dem Mangel ärztlichen Beistandes
sicher stellten, so war doch die Ueberzeugung, durch gesetzlichen Zwang an
eine Verpflichtung gebunden zu sein, über welche füglich der freie Wille und
die Humanität gebieten sollten, oft von recht drückender Wirkung. Ueberdies
ist der Ruf des Arztes, dessen Wirkungskreis mit allen Schichten der Be¬
völkerung in naher Berührung steht, durch das Benehmen gewisser Persön¬
lichkeiten gefährdet, denen der Beamte mit Hilfe des Gesetzes entgegentritt.
Der Arzt wird seine Würde wahren, wenn er in Zukunft gegen das Ge-
bahren solcher Andringlinge von der Waffe Gebrauch macht, welche das Ge¬
setz ihm an die Hand gibt. Im Uebrigen ist die Verpflichtung zur Behand¬
lung kranker Armer und zur Hilfsleistung bei dringender Gefahr eine
moralische, und es gereicht gewiß nicht zum Vortheil des Publicums, diese
Verpflichtung, die sich durch keine gesetzliche Bestimmung bemessen läßt, in
eine rechtliche, eine bürgerliche umzuwandeln. Bedenkt man nun, daß, je
mehr die finanzielle Stellung der Aerzte an kleinen Orten durch die bestehende
Taxfreiheit sich bessern wird, um so weniger der Mangel an geeigneter ärzt¬
licher Hilfe zu befürchten steht, berücksichtigt man ferner, daß kaum ein Stand
in solchem Maß abhängig ist von dem Urtheil und von dem Vertrauen des
Publicums, wie der des Arztes, so wird man eine ausreichende Hilfsleistung
selbst in entfernteren Landbezirken im Allgemeinen auch fernerhin und trotz
des Mangels an Strafbestimmungen nicht vermissen.




des Reichstags, welcher den ärztlichen Zwang beseitigte. Man hatte seither
dem Arzt Verpflichtungen unter Strafandrohungen aufgebürdet, die für seine
Stellung zum Publicum die beklagenswerthesten Uebelstände bedingten. Die
Aufhebung aller bestehenden Bestimmungen, welche den Aerzten unter An¬
drohung von Strafen einen Zwang zu ärztlicher Hilfe auferlegten, war daher
nicht nur eine logische Nothwendigkeit, hervorgegangen aus dem Beschluß
des Reichstags in Betreff der Freigabe der ärztlichen Praxis, sondern es
wird die Enthebung jener von den Aerzten schon vielfach als eine Härte be¬
zeichneten Verpflichtung von nicht geringer practischer Bedeutung sein. Die Stel¬
lung des Arztes war seither eine unfreie. Der Artikel 200 des preußischen
Strafgesetzbuchs, welcher mit einigen Abänderungen für die übrigen Staaten
Deutschlands maßgebend war, bedingte eine Beeinträchtigung der Zufrieden¬
heit und des Behagens, welche die Grundlage für die gedeihliche Entwicke¬
lung einer jeden Berufsthätigkeit bilden. Wenn auch in xraxi jener Para¬
graph höchst selten Geltung gewann, indem private Rücksichten und vor
Allem die Concurrenz das Publicum vor dem Mangel ärztlichen Beistandes
sicher stellten, so war doch die Ueberzeugung, durch gesetzlichen Zwang an
eine Verpflichtung gebunden zu sein, über welche füglich der freie Wille und
die Humanität gebieten sollten, oft von recht drückender Wirkung. Ueberdies
ist der Ruf des Arztes, dessen Wirkungskreis mit allen Schichten der Be¬
völkerung in naher Berührung steht, durch das Benehmen gewisser Persön¬
lichkeiten gefährdet, denen der Beamte mit Hilfe des Gesetzes entgegentritt.
Der Arzt wird seine Würde wahren, wenn er in Zukunft gegen das Ge-
bahren solcher Andringlinge von der Waffe Gebrauch macht, welche das Ge¬
setz ihm an die Hand gibt. Im Uebrigen ist die Verpflichtung zur Behand¬
lung kranker Armer und zur Hilfsleistung bei dringender Gefahr eine
moralische, und es gereicht gewiß nicht zum Vortheil des Publicums, diese
Verpflichtung, die sich durch keine gesetzliche Bestimmung bemessen läßt, in
eine rechtliche, eine bürgerliche umzuwandeln. Bedenkt man nun, daß, je
mehr die finanzielle Stellung der Aerzte an kleinen Orten durch die bestehende
Taxfreiheit sich bessern wird, um so weniger der Mangel an geeigneter ärzt¬
licher Hilfe zu befürchten steht, berücksichtigt man ferner, daß kaum ein Stand
in solchem Maß abhängig ist von dem Urtheil und von dem Vertrauen des
Publicums, wie der des Arztes, so wird man eine ausreichende Hilfsleistung
selbst in entfernteren Landbezirken im Allgemeinen auch fernerhin und trotz
des Mangels an Strafbestimmungen nicht vermissen.




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[0398] des Reichstags, welcher den ärztlichen Zwang beseitigte. Man hatte seither dem Arzt Verpflichtungen unter Strafandrohungen aufgebürdet, die für seine Stellung zum Publicum die beklagenswerthesten Uebelstände bedingten. Die Aufhebung aller bestehenden Bestimmungen, welche den Aerzten unter An¬ drohung von Strafen einen Zwang zu ärztlicher Hilfe auferlegten, war daher nicht nur eine logische Nothwendigkeit, hervorgegangen aus dem Beschluß des Reichstags in Betreff der Freigabe der ärztlichen Praxis, sondern es wird die Enthebung jener von den Aerzten schon vielfach als eine Härte be¬ zeichneten Verpflichtung von nicht geringer practischer Bedeutung sein. Die Stel¬ lung des Arztes war seither eine unfreie. Der Artikel 200 des preußischen Strafgesetzbuchs, welcher mit einigen Abänderungen für die übrigen Staaten Deutschlands maßgebend war, bedingte eine Beeinträchtigung der Zufrieden¬ heit und des Behagens, welche die Grundlage für die gedeihliche Entwicke¬ lung einer jeden Berufsthätigkeit bilden. Wenn auch in xraxi jener Para¬ graph höchst selten Geltung gewann, indem private Rücksichten und vor Allem die Concurrenz das Publicum vor dem Mangel ärztlichen Beistandes sicher stellten, so war doch die Ueberzeugung, durch gesetzlichen Zwang an eine Verpflichtung gebunden zu sein, über welche füglich der freie Wille und die Humanität gebieten sollten, oft von recht drückender Wirkung. Ueberdies ist der Ruf des Arztes, dessen Wirkungskreis mit allen Schichten der Be¬ völkerung in naher Berührung steht, durch das Benehmen gewisser Persön¬ lichkeiten gefährdet, denen der Beamte mit Hilfe des Gesetzes entgegentritt. Der Arzt wird seine Würde wahren, wenn er in Zukunft gegen das Ge- bahren solcher Andringlinge von der Waffe Gebrauch macht, welche das Ge¬ setz ihm an die Hand gibt. Im Uebrigen ist die Verpflichtung zur Behand¬ lung kranker Armer und zur Hilfsleistung bei dringender Gefahr eine moralische, und es gereicht gewiß nicht zum Vortheil des Publicums, diese Verpflichtung, die sich durch keine gesetzliche Bestimmung bemessen läßt, in eine rechtliche, eine bürgerliche umzuwandeln. Bedenkt man nun, daß, je mehr die finanzielle Stellung der Aerzte an kleinen Orten durch die bestehende Taxfreiheit sich bessern wird, um so weniger der Mangel an geeigneter ärzt¬ licher Hilfe zu befürchten steht, berücksichtigt man ferner, daß kaum ein Stand in solchem Maß abhängig ist von dem Urtheil und von dem Vertrauen des Publicums, wie der des Arztes, so wird man eine ausreichende Hilfsleistung selbst in entfernteren Landbezirken im Allgemeinen auch fernerhin und trotz des Mangels an Strafbestimmungen nicht vermissen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/398>, abgerufen am 11.05.2024.