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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Für die nationale Partei.

Im Aufgang eines neuen Jahres denken wir zuerst der Arbeit, welche
dem Deutschen für seinen Staat Noth thut. Selten ist der Nation in die¬
sem Jahrhundert zu Theil geworden, daß große Fortschritte im Staatsleben
durch freiwilligen Entschluß und vorsorgliche Gedanken der Regierungen be¬
gonnen wurden. Lange Jahre blieb der Zollverein fast die einzige Schöpfung,
welche aus freier Initiative einer großen Negierung hervorgegangen war.
Kaum darf man die Verfassungen der kleineren Staaten zu solchen Geschenken
rechnen, denn auch wo die Regierung einem freiwilligen Versprechen durch
Verleihung der Urkunde nachkam, war fast überall ein hartnäckiger Kampf
mit dynastischen Gewohnheiten und Beamtenherrschsucht nöthig, um die
Rechtsformen zu lebendiger Wirksamkeit zu bringen. In ihrem Schutz rang
eine ganze Generation mühselig darnach, die alte Polizeiwillkür, Censur, Jn-
quisitionsproceß, tyrannische Bevormundung des Geschäftsverkehrs zu beseiti¬
gen. Erst der Sturm von 1848 gab in dem größten Theile Deutschlands
dem Volk einen immerhin ungenügenden Antheil an der Gesetzgebung und
an Controle der Staatsverwaltung.

Was Wunder, daß dem Deutschen das entschlossene Auftreten Preußens
im Jahre 1866, die Gründung des neuen Bundesstaats unter dem Zwang
glorreicher Siege, als Beginn einer neuen Zeit erschien, wo die erste Regie¬
rung Deutschlands selbstwillig und mit eigener Einsicht Alles vollbringen
werde, was die Besten der Nation seit zwei Jahrzehnten ersehnt und gefor¬
dert. Daß König Wilhelm über das Schlachtfeld zur Verfolgung des Feindes
ritt, daß Graf Bismarck die Kriegscontrivutionen und Bündnisse dictirte,
die Vergrößerung Preußens und die Grenzen seines Bundesstaates festsetzte,
das erfüllte Viele mit einem Vertrauen zu mannhaften Willen und Viele mit
einer Scheu vor überlegenem Willen, welche den Deutschen ganz neu waren.
Unter dem Zauber großer Erfolge und staatsmännischer Klugheit eines
Mannes verbreitete sich die geheime Zuversicht, daß die höhere Einsicht und
der Patriotismus eines Einzelnen mehr dauernden Werth habe, als die
Anläufe und Bestrebungen von zwei Generationen deutscher Patrioten.

Wir haben nicht die Absicht, die Bedeutung herabzusetzen, welche die


Grenzboten I. 1870. 1
Für die nationale Partei.

Im Aufgang eines neuen Jahres denken wir zuerst der Arbeit, welche
dem Deutschen für seinen Staat Noth thut. Selten ist der Nation in die¬
sem Jahrhundert zu Theil geworden, daß große Fortschritte im Staatsleben
durch freiwilligen Entschluß und vorsorgliche Gedanken der Regierungen be¬
gonnen wurden. Lange Jahre blieb der Zollverein fast die einzige Schöpfung,
welche aus freier Initiative einer großen Negierung hervorgegangen war.
Kaum darf man die Verfassungen der kleineren Staaten zu solchen Geschenken
rechnen, denn auch wo die Regierung einem freiwilligen Versprechen durch
Verleihung der Urkunde nachkam, war fast überall ein hartnäckiger Kampf
mit dynastischen Gewohnheiten und Beamtenherrschsucht nöthig, um die
Rechtsformen zu lebendiger Wirksamkeit zu bringen. In ihrem Schutz rang
eine ganze Generation mühselig darnach, die alte Polizeiwillkür, Censur, Jn-
quisitionsproceß, tyrannische Bevormundung des Geschäftsverkehrs zu beseiti¬
gen. Erst der Sturm von 1848 gab in dem größten Theile Deutschlands
dem Volk einen immerhin ungenügenden Antheil an der Gesetzgebung und
an Controle der Staatsverwaltung.

Was Wunder, daß dem Deutschen das entschlossene Auftreten Preußens
im Jahre 1866, die Gründung des neuen Bundesstaats unter dem Zwang
glorreicher Siege, als Beginn einer neuen Zeit erschien, wo die erste Regie¬
rung Deutschlands selbstwillig und mit eigener Einsicht Alles vollbringen
werde, was die Besten der Nation seit zwei Jahrzehnten ersehnt und gefor¬
dert. Daß König Wilhelm über das Schlachtfeld zur Verfolgung des Feindes
ritt, daß Graf Bismarck die Kriegscontrivutionen und Bündnisse dictirte,
die Vergrößerung Preußens und die Grenzen seines Bundesstaates festsetzte,
das erfüllte Viele mit einem Vertrauen zu mannhaften Willen und Viele mit
einer Scheu vor überlegenem Willen, welche den Deutschen ganz neu waren.
Unter dem Zauber großer Erfolge und staatsmännischer Klugheit eines
Mannes verbreitete sich die geheime Zuversicht, daß die höhere Einsicht und
der Patriotismus eines Einzelnen mehr dauernden Werth habe, als die
Anläufe und Bestrebungen von zwei Generationen deutscher Patrioten.

Wir haben nicht die Absicht, die Bedeutung herabzusetzen, welche die


Grenzboten I. 1870. 1
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[0007] Für die nationale Partei. Im Aufgang eines neuen Jahres denken wir zuerst der Arbeit, welche dem Deutschen für seinen Staat Noth thut. Selten ist der Nation in die¬ sem Jahrhundert zu Theil geworden, daß große Fortschritte im Staatsleben durch freiwilligen Entschluß und vorsorgliche Gedanken der Regierungen be¬ gonnen wurden. Lange Jahre blieb der Zollverein fast die einzige Schöpfung, welche aus freier Initiative einer großen Negierung hervorgegangen war. Kaum darf man die Verfassungen der kleineren Staaten zu solchen Geschenken rechnen, denn auch wo die Regierung einem freiwilligen Versprechen durch Verleihung der Urkunde nachkam, war fast überall ein hartnäckiger Kampf mit dynastischen Gewohnheiten und Beamtenherrschsucht nöthig, um die Rechtsformen zu lebendiger Wirksamkeit zu bringen. In ihrem Schutz rang eine ganze Generation mühselig darnach, die alte Polizeiwillkür, Censur, Jn- quisitionsproceß, tyrannische Bevormundung des Geschäftsverkehrs zu beseiti¬ gen. Erst der Sturm von 1848 gab in dem größten Theile Deutschlands dem Volk einen immerhin ungenügenden Antheil an der Gesetzgebung und an Controle der Staatsverwaltung. Was Wunder, daß dem Deutschen das entschlossene Auftreten Preußens im Jahre 1866, die Gründung des neuen Bundesstaats unter dem Zwang glorreicher Siege, als Beginn einer neuen Zeit erschien, wo die erste Regie¬ rung Deutschlands selbstwillig und mit eigener Einsicht Alles vollbringen werde, was die Besten der Nation seit zwei Jahrzehnten ersehnt und gefor¬ dert. Daß König Wilhelm über das Schlachtfeld zur Verfolgung des Feindes ritt, daß Graf Bismarck die Kriegscontrivutionen und Bündnisse dictirte, die Vergrößerung Preußens und die Grenzen seines Bundesstaates festsetzte, das erfüllte Viele mit einem Vertrauen zu mannhaften Willen und Viele mit einer Scheu vor überlegenem Willen, welche den Deutschen ganz neu waren. Unter dem Zauber großer Erfolge und staatsmännischer Klugheit eines Mannes verbreitete sich die geheime Zuversicht, daß die höhere Einsicht und der Patriotismus eines Einzelnen mehr dauernden Werth habe, als die Anläufe und Bestrebungen von zwei Generationen deutscher Patrioten. Wir haben nicht die Absicht, die Bedeutung herabzusetzen, welche die Grenzboten I. 1870. 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/7>, abgerufen am 24.05.2024.