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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Leiter der Bundespolitik für die Nation gewonnen haben. Es gibt wohl
kein Blatt in Deutschland. welches freudiger als wir das Gute empfindet,
das sie uns bereiteten. Nur an eines möchten wir vorsichtig erinnern. Es ist
wahr, daß alle großen Reformen im Leben einer Nation, wenn sie von
Tausenden als Bedürfniß erkannt und geheischt sind, den Durchgang durch die
Seele eines Mannes nehmen, welcher, die Machtmittel fest in der Hand hal¬
tend, den schwebenden Gedanken geschlossenen Willen zusetzt. Es ist auch
ganz in der Ordnung, daß solchem Einzelnen, der zur That verdichtet, was
vorher Sehnsucht, Wunsch, Bedürfniß war. der Ruhm und die Verantwor¬
tung für das Gewordene zufallen. Aber ebenso wahr ist, daß jeder That
des Einzelnen auch viel Unfertiges und Individuelles, Beschränktes und
Zufälliges anhängt, was wieder nur durch die unablässigen Correcturen be¬
seitigt werden kann, welche die Arbeit Vieler, die angestrengte Thätigkeit der
ganzen Nation dazu bringt. Was der Held allein erdacht, ob Luther, Crom-
well, Friedrich II., Napoleon, dauert, soweit es den Stempel des Persön¬
lichen bewahrt, selten über sein eigenes Wirken hinaus, und der Segen seines
Thuns wird späteren Geschlechtern vielleicht nur aus den Früchten deutlich,
die seine Gegner gewinnen. Es war das Größte und Dauerhafteste an
Washington, daß der bescheidene Mann nicht unternahm, den neuen Staat
selbstwillig zu gestalten.

Wie die Wellen starkbewegter See steigen und sinken alljährlich die
Tagesstimmungen, mit denen der Deutsche seinen Bundesstaat betrachtet. In
den ersten Monaten des Jahres die Wirkung des Reichstages, neue Gesetz¬
vorlagen, entschlossene Worte von der Tribüne und dem Ministertische. In
der zweiten Hälfte müßige Sommerzeit, im Herbst die Landtage der Einzel¬
staaten und häufige Erinnerung daran, daß Deutschland noch lange nicht
einig ist und daß überall feindliche Tendenzen gegen den Bundesstaat wirken
und alljährlich dreister heraustreten. Das Gefühl, wie ungenügend die neue
Maschine arbeitet, ist seit dem letzten Sommer durch die lange Abwesen-
heit des Bundeskanzlers gesteigert worden. Nicht allein dadurch. Der Mangel
an einer Executive im Bunde wird nothwendig empfindlicher, je größer die
Anzahl der wohlthätigen Verkehrsgesetze ist, welche durch Bundesrath und
Reichstag vereinbart den einzelnen Staaten zur Ausführung überlassen wer¬
den. Es ist nicht Mecklenburg allein, wo die Reichsgesetze in der Ausführung
leise gedeutet und gebogen werden, und zuweilen in Gefahr sind, papierene
Paragraphen zu bleiben. Die Einzelstaaten haben sich mit dem Bunde ein¬
gerichtet und die Scheu abgeneigter Behörden vor einer Gesetzgebung, welche
durch keine entsprechende Bundesgewalt behütet wird, ist gering geworden;
Beschwerden Einzelner über Ungesetzlichkeiten der Staatsregierungen müssen
im Wege diplomatischer Verhandlungen erledigt werden. Da wird vielleicht


Leiter der Bundespolitik für die Nation gewonnen haben. Es gibt wohl
kein Blatt in Deutschland. welches freudiger als wir das Gute empfindet,
das sie uns bereiteten. Nur an eines möchten wir vorsichtig erinnern. Es ist
wahr, daß alle großen Reformen im Leben einer Nation, wenn sie von
Tausenden als Bedürfniß erkannt und geheischt sind, den Durchgang durch die
Seele eines Mannes nehmen, welcher, die Machtmittel fest in der Hand hal¬
tend, den schwebenden Gedanken geschlossenen Willen zusetzt. Es ist auch
ganz in der Ordnung, daß solchem Einzelnen, der zur That verdichtet, was
vorher Sehnsucht, Wunsch, Bedürfniß war. der Ruhm und die Verantwor¬
tung für das Gewordene zufallen. Aber ebenso wahr ist, daß jeder That
des Einzelnen auch viel Unfertiges und Individuelles, Beschränktes und
Zufälliges anhängt, was wieder nur durch die unablässigen Correcturen be¬
seitigt werden kann, welche die Arbeit Vieler, die angestrengte Thätigkeit der
ganzen Nation dazu bringt. Was der Held allein erdacht, ob Luther, Crom-
well, Friedrich II., Napoleon, dauert, soweit es den Stempel des Persön¬
lichen bewahrt, selten über sein eigenes Wirken hinaus, und der Segen seines
Thuns wird späteren Geschlechtern vielleicht nur aus den Früchten deutlich,
die seine Gegner gewinnen. Es war das Größte und Dauerhafteste an
Washington, daß der bescheidene Mann nicht unternahm, den neuen Staat
selbstwillig zu gestalten.

Wie die Wellen starkbewegter See steigen und sinken alljährlich die
Tagesstimmungen, mit denen der Deutsche seinen Bundesstaat betrachtet. In
den ersten Monaten des Jahres die Wirkung des Reichstages, neue Gesetz¬
vorlagen, entschlossene Worte von der Tribüne und dem Ministertische. In
der zweiten Hälfte müßige Sommerzeit, im Herbst die Landtage der Einzel¬
staaten und häufige Erinnerung daran, daß Deutschland noch lange nicht
einig ist und daß überall feindliche Tendenzen gegen den Bundesstaat wirken
und alljährlich dreister heraustreten. Das Gefühl, wie ungenügend die neue
Maschine arbeitet, ist seit dem letzten Sommer durch die lange Abwesen-
heit des Bundeskanzlers gesteigert worden. Nicht allein dadurch. Der Mangel
an einer Executive im Bunde wird nothwendig empfindlicher, je größer die
Anzahl der wohlthätigen Verkehrsgesetze ist, welche durch Bundesrath und
Reichstag vereinbart den einzelnen Staaten zur Ausführung überlassen wer¬
den. Es ist nicht Mecklenburg allein, wo die Reichsgesetze in der Ausführung
leise gedeutet und gebogen werden, und zuweilen in Gefahr sind, papierene
Paragraphen zu bleiben. Die Einzelstaaten haben sich mit dem Bunde ein¬
gerichtet und die Scheu abgeneigter Behörden vor einer Gesetzgebung, welche
durch keine entsprechende Bundesgewalt behütet wird, ist gering geworden;
Beschwerden Einzelner über Ungesetzlichkeiten der Staatsregierungen müssen
im Wege diplomatischer Verhandlungen erledigt werden. Da wird vielleicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/8>, abgerufen am 16.06.2024.