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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Nußland im letzten Halbjahr.
III. (Schluß.)
Zustand der westlichen Provinzen.

Je höher man die cultivator!schen Fortschritte in Rußland anschlägt
von denen wir in den vorigen Artikeln geredet haben, desto empfindlicher wirkt
das Unterdrückungssystem in den westlichen Provinzen. In Litthauen, welches
derjenige ehemals polnische Landestheil ist, dessen Russtficirung, wenn auch
nicht als vollständig beendet angesehen werden kann, doch bereits weit vor¬
geschritten ist, wollte man den Grundbesitzern angeblich durch ein Credit-
Institut zu Hilfe kommen; aber es kam nicht zu Stande, Das Amtsblatt
sagte: wegen Unzulänglichkeit der Garantien, die Einwohner behaupteten
aber, weil sich die Regierung überzeugte, daß eine weitere Ausbeutung des
Grundbesitzes nicht mehr möglich sei, und die Regierung, da sie selbst schon
den meisten Grundbesitz hat, ihr eigener Gläubiger und Schuldner sein würde.
Daß der Nothstand dort arg ist, ergibt sich aus einer Menge von Angaben.
Feldfrüchte sind schon seit mehreren Jahren äußerst karg, da der Mangel an
Arbeitern und an Betriebscapital gleich groß ist. Die Regierung will zwar
den Landwirthen Soldaten zur Verwendung geben, welche neben ihrem
Traetament 6 Kopeken (2 Sgr.) erhalten, und diese als Vorschüsse veraus¬
lagten Kosten sollen später zurückgezahlt werden. Die armen Leute auf dem
Lande machen ein Conglomerat von Brot aus getrockneten und pulverisirten
Wurzeln und einer Art isländischem Moos mit Roggenkleie vermischt. Ein
Holzkaufmann hat dort gesehen, wie sie die halbreifen Roggenähren ab¬
schnitten, am Feuer trockneten, dann kleiner hackten und kochten; andere
leben von Pilzen mit Salz, in Folge dessen häufig Erkrankungen und Sterbe¬
fälle vorkamen. Der Auswanderung nach dem Innern Rußlands werden
die größten Schwierigkeiten entgegengesetzt, wie ausdrücklich aus Petersburg
angeordnet wurde. Ein anderer Befehl, daß 3 Millionen Rub. aus dem
Staatsschatze zum Besten der Provinz Litthauen verwendet werden sollten,
namentlich zum Ankauf von Inventarien und Getreide zur Frühjahrssaat,
ist im December bereits zurückgenommen, dagegen angeordnet worden, daß
für 4 Millionen Rub. Pfandscheine auf den Grundbesitz der Provinz emittirt
würden. Für den Fall, daß Unruhen ausbrechen sollten, sind mobile Ko¬
lonnen Militär aufgestellt. Da die Leute keine Pässe mehr zur Auswande¬
rung erhielten, wanderten sie ohne solche aus, wurden aber festgenommen
und entweder noch hilfloser zurückgebracht oder nach den UrWaldungen bei
Brzesc zur Errichtung von Kolonien geführt. Die Juden, welche Grund-


Nußland im letzten Halbjahr.
III. (Schluß.)
Zustand der westlichen Provinzen.

Je höher man die cultivator!schen Fortschritte in Rußland anschlägt
von denen wir in den vorigen Artikeln geredet haben, desto empfindlicher wirkt
das Unterdrückungssystem in den westlichen Provinzen. In Litthauen, welches
derjenige ehemals polnische Landestheil ist, dessen Russtficirung, wenn auch
nicht als vollständig beendet angesehen werden kann, doch bereits weit vor¬
geschritten ist, wollte man den Grundbesitzern angeblich durch ein Credit-
Institut zu Hilfe kommen; aber es kam nicht zu Stande, Das Amtsblatt
sagte: wegen Unzulänglichkeit der Garantien, die Einwohner behaupteten
aber, weil sich die Regierung überzeugte, daß eine weitere Ausbeutung des
Grundbesitzes nicht mehr möglich sei, und die Regierung, da sie selbst schon
den meisten Grundbesitz hat, ihr eigener Gläubiger und Schuldner sein würde.
Daß der Nothstand dort arg ist, ergibt sich aus einer Menge von Angaben.
Feldfrüchte sind schon seit mehreren Jahren äußerst karg, da der Mangel an
Arbeitern und an Betriebscapital gleich groß ist. Die Regierung will zwar
den Landwirthen Soldaten zur Verwendung geben, welche neben ihrem
Traetament 6 Kopeken (2 Sgr.) erhalten, und diese als Vorschüsse veraus¬
lagten Kosten sollen später zurückgezahlt werden. Die armen Leute auf dem
Lande machen ein Conglomerat von Brot aus getrockneten und pulverisirten
Wurzeln und einer Art isländischem Moos mit Roggenkleie vermischt. Ein
Holzkaufmann hat dort gesehen, wie sie die halbreifen Roggenähren ab¬
schnitten, am Feuer trockneten, dann kleiner hackten und kochten; andere
leben von Pilzen mit Salz, in Folge dessen häufig Erkrankungen und Sterbe¬
fälle vorkamen. Der Auswanderung nach dem Innern Rußlands werden
die größten Schwierigkeiten entgegengesetzt, wie ausdrücklich aus Petersburg
angeordnet wurde. Ein anderer Befehl, daß 3 Millionen Rub. aus dem
Staatsschatze zum Besten der Provinz Litthauen verwendet werden sollten,
namentlich zum Ankauf von Inventarien und Getreide zur Frühjahrssaat,
ist im December bereits zurückgenommen, dagegen angeordnet worden, daß
für 4 Millionen Rub. Pfandscheine auf den Grundbesitz der Provinz emittirt
würden. Für den Fall, daß Unruhen ausbrechen sollten, sind mobile Ko¬
lonnen Militär aufgestellt. Da die Leute keine Pässe mehr zur Auswande¬
rung erhielten, wanderten sie ohne solche aus, wurden aber festgenommen
und entweder noch hilfloser zurückgebracht oder nach den UrWaldungen bei
Brzesc zur Errichtung von Kolonien geführt. Die Juden, welche Grund-


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[0102] Nußland im letzten Halbjahr. III. (Schluß.) Zustand der westlichen Provinzen. Je höher man die cultivator!schen Fortschritte in Rußland anschlägt von denen wir in den vorigen Artikeln geredet haben, desto empfindlicher wirkt das Unterdrückungssystem in den westlichen Provinzen. In Litthauen, welches derjenige ehemals polnische Landestheil ist, dessen Russtficirung, wenn auch nicht als vollständig beendet angesehen werden kann, doch bereits weit vor¬ geschritten ist, wollte man den Grundbesitzern angeblich durch ein Credit- Institut zu Hilfe kommen; aber es kam nicht zu Stande, Das Amtsblatt sagte: wegen Unzulänglichkeit der Garantien, die Einwohner behaupteten aber, weil sich die Regierung überzeugte, daß eine weitere Ausbeutung des Grundbesitzes nicht mehr möglich sei, und die Regierung, da sie selbst schon den meisten Grundbesitz hat, ihr eigener Gläubiger und Schuldner sein würde. Daß der Nothstand dort arg ist, ergibt sich aus einer Menge von Angaben. Feldfrüchte sind schon seit mehreren Jahren äußerst karg, da der Mangel an Arbeitern und an Betriebscapital gleich groß ist. Die Regierung will zwar den Landwirthen Soldaten zur Verwendung geben, welche neben ihrem Traetament 6 Kopeken (2 Sgr.) erhalten, und diese als Vorschüsse veraus¬ lagten Kosten sollen später zurückgezahlt werden. Die armen Leute auf dem Lande machen ein Conglomerat von Brot aus getrockneten und pulverisirten Wurzeln und einer Art isländischem Moos mit Roggenkleie vermischt. Ein Holzkaufmann hat dort gesehen, wie sie die halbreifen Roggenähren ab¬ schnitten, am Feuer trockneten, dann kleiner hackten und kochten; andere leben von Pilzen mit Salz, in Folge dessen häufig Erkrankungen und Sterbe¬ fälle vorkamen. Der Auswanderung nach dem Innern Rußlands werden die größten Schwierigkeiten entgegengesetzt, wie ausdrücklich aus Petersburg angeordnet wurde. Ein anderer Befehl, daß 3 Millionen Rub. aus dem Staatsschatze zum Besten der Provinz Litthauen verwendet werden sollten, namentlich zum Ankauf von Inventarien und Getreide zur Frühjahrssaat, ist im December bereits zurückgenommen, dagegen angeordnet worden, daß für 4 Millionen Rub. Pfandscheine auf den Grundbesitz der Provinz emittirt würden. Für den Fall, daß Unruhen ausbrechen sollten, sind mobile Ko¬ lonnen Militär aufgestellt. Da die Leute keine Pässe mehr zur Auswande¬ rung erhielten, wanderten sie ohne solche aus, wurden aber festgenommen und entweder noch hilfloser zurückgebracht oder nach den UrWaldungen bei Brzesc zur Errichtung von Kolonien geführt. Die Juden, welche Grund-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/102>, abgerufen am 06.05.2024.